Trotz alledem: Die Franzosen sind ein Vorbild

Zwischenbilanz des Festival d’Avignon 2014

 

AVIGNON. Das Festival d’Avignon gehört zu den Fünfsternefestivals Europas – es ist das tonangebende Sommerfestival Frankreichs und der frankophonen Welt. Vom Rang her in etwa mit der ruhrtriennale zu vergleichen, auch vom Profil her – es geht um zeitgenössische Kunst, um Avantgarde.  In diesem Jahr begann ein neuer Leiter seine Arbeit, Olivier Py, Dramatiker, Regisseur, Bühnenleiter und Vertreter des katholischen französischen Volkstheaters.

 

Damit steht er in einer großen Tradition, schon der Gründervater, Jean Vilar, war Volkstheatermann – und bis heute wendet sich das Festival an alle – kein Theater für Eliten oder jene, die sich dafür halten.

 

Py bietet ein weltumspannendes, anspruchsvolles Programm an und es wird angenommen. Er selbst hat ein neues Stück beigesteuert „Orlando ou l’impatience“ – „Orlando oder die Ungeduld“, selbst inszeniert und damit eine Visitenkarte abgegeben: Es geht um einen Mann auf der Suche nach Gott – die Figur hat sicherlich autobiographische Züge.

 

Hyperion

 

Es gab wie in jedem Festival Höhe-und Tiefpunkte –   zu den Abstürzen gehört „Hypérion“. Die Adaption von Hölderlins Briefroman endete mit einem Desaster. Marie-José Malis, die mit Judith Balso für die Bühnenfassung verantwortlich zeichnet und Regie führt, ließ neun Schauspielerinnen und Schauspieler in einem Einheitsbühnenbild auftreten: links ein schäbiges kleines Café mit Coca-Cola-Markise, Stühlchen und Tischen auf dem Vorplatz, daneben ein  Reisebüro mit Werbung für den Irak, schließlich eine Garage und Werkstatt von Peugeot mit arabischer Schrift. Der Platz ist nicht genau festgelegt, irgendwo in einem Kaff, sei es in Griechenland, sei es in einem Land Nordafrikas, mit prekären Verhältnissen. Die Schauspieler sprechen „Hyperion“-Text, sind aber in ihren besten Jahren oder drüber, keineswegs der idealistische Jüngling Hölderlins. Und sie sprechen auch nicht mit verklärten und verklärenden Wendungen wie Hyperion seine Briefe schrieb, sondern ersterbend, erstorben.

 

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …

 

Die Dissoziation zwischen Text und Bild ist allzu groß – was soll das bedeuten? Die Wirkung ist zunächst erst einmal rätselhaft.  Während der ganzen Aufführung bleibt das Licht im Saal hell. Viele Zuschauer greifen zum Programmheft, um sich zu informieren – aber es nützt nichts.

 

Eine zweite Wirkung ist fatal, die Aufführung ist nicht nur zäh, sie ist schlicht langweilig. Erst erheben sich zweidrei und gehen, dann folgen einige – nach der Pause ist mehr als die Hälfte des Publikums verschwunden – die Aufführung dauert auch viel zu lang, sage und schreibe fünf Stunden. Dabei ist eigentlich alles schon nach sechzig, längstens 62 Minuten gesagt.

 

Man kann sich zusammenreimen, was Marie-José Malis vielleicht gedacht haben könnte: All diese erloschenen Figuren auf der Bühne waren einmal Hyperions mit hochfliegenden Hoffnungen, idealistische Jünglinge und tief empfindende Mädchen, nun sind sie tief enttäuscht – wie eben heute in den genannten Ländern.

 

… dass ich so traurig bin?

 

Aber was soll daraus folgen? Die Aufführung ist vor allem mit Frustration grundiert, teilweise larmoyant. Soll das die Gegenwehr des Zuschauers provozieren: Nutze die Zeit!? Die dem Spiel unterlegte Musik deutet mehr auf heroische Resignation, auf Entsagung.  Das führte mittenmang ins Desaster. Fünf Stunden lang. Ein Debakel. Debakel oder Desaster? Nicht Entwederoder, sondern Sowohlalsauch: Ein debakulöses Desaster.

 

Archiv

 

Aber Flops können im Rahmen eines Festivals ausgeglichen werden – mit überragenden Aufführungen und dazu gehörte „Archive“ – auf Deutsch: Archiv.  Arkadi Zaides ist Choreograph und Tänzer, er kommt aus Israel. Er ist genial, ein Avantgardist. Für sein „Archiv“ hat er Videomaterial genutzt. B’Tselem ist eine israelische Organisation, die international bekannt geworden ist, weil sie regelmäßig Verletzung von Menschenrechten in Israel enthüllt, Verletzung der Menschenrechte von Palästinensern in besetzten Gebieten, begangen von   der Armee, Siedlern, Gerichten und der Regierung. 2007 hat B’Teselem Palästinensern, die in besonders konfliktreichen Gebieten leben, Kameras anvertraut, um diese Verletzungen der Menschenrechte zu dokumentieren.

 

Einige dieser Dokumente, auf denen ausschließlich Israelis zu sehen sind, hat Zaides ausgewählt, auf seinem Computer zusammengeschnitten; er projiziert dieses Videomaterial auf eine große Leinwand.

 

Ein Soldat steht an einer Ecke, verbirgt sich vor Demonstranten; mit einem Gewehr für Tränengaspatronen bewaffnet geht er vor, legt an, geht wieder zurück.

 

Zaides nimmt die Bewegung auf. Erst jetzt wird deutlich, wie viel Aggression in ihr steckt. Zaides schaut noch einmal auf die Bilder vom Soldaten, korrigiert sich. Dem Zuschauer gehen die Augen auf.

 

Siedler scheuchen Schafe von  Palästinensern vom Weidegrund. Die Arme weit ausgebreitet, sie geben pfeifende Geräusche von sich, um den Tieren Angst zu machen. Zaides ahmt die Bewegung nach.

 

Beim Purimfest hat ein Junge zu viel getrunken – er schlägt laut an die verrammelten Fenster eines Palästinenserhauses. Will er nur Spaß, will er Angst machen? – Jemand schleppt ihn weg, die Mutter, der Vater? Er wehrt sich und schreit.

 

Zu den Bewegungen der Aggression fügt Zaides Bewegungen des Zurückweichens hinzu. Auf allen Vieren auf dem Boden, wie beim Liegestütz, dann hebt er eine Hand – flehend, bittend, abwehrend?

 

Diese Elemente und mehr, sorgfältig beobachtet und ausgewählt, gemischt mit akustischen der Aufnahmen, komponiert Zaides zu einer längeren Sequenz, deren Entstehung die Zuschauer beigewohnt haben. Die Wirkung ist überraschend: Ist das der Tanz des Unmenschen? Nein, es ist mehr eine Regression. Die akustische Kulisse, das sind Schreie, Brüllen, um jemand einzuschüchtern. Unteroffziersbefehlston, noch weiter unten: Hirte scheuchen Tiere. Keine Worte. Kein Argument. Menschliches Gebell. Und die Bewegungen? Zaides hat den gestählten, durchtrainierten Körper eines athletischen Tänzers. Es wäre ihm ein Leichtes, den Prinzen in Schwanensee zu tanzen, er könnte mit atemberaubenden Sprüngen über die Bühne wirbeln, zwei Prinzessinnen gleichzeitig in die höchsten Höhen heben – und benimmt sich auf der Bühne, als habe alle Kultur in verlassen.

 

Natürlich ist Arkadi Zaides gegen die Menschenrechtsverletzungen, gegen das Unrecht, das den Palästinensern widerfährt – er nennt Ross und Reiter, das ist politischer Tanz, Anklage. Aber die Wahl des ganz konkreten Materials macht noch eine andere Dimension deutlich: Zaides zeigt, wie die Soldaten, die Siedler, die er zeigt, verrohen. Sie selbst tun sich etwas an.

 

Einige Zuschauer gehen. Vielleicht aus politischen, vielleicht aus ästhetischen Gründen. Arkadi Zaides überschreitet Grenzen des Tanzes, des Tanztheaters, er kreiert etwas Neues: konkreten Tanz.

 

Sage mir, wie du dich bewegst, und ich sage dir, was für ein Mensch du bist.

 

Überzeugend. Neu. Genial! Wunderbar, diese Israelis!

 

 Ein ganz besonderes Festival

 

Man könnte angesichts der üblichen Höhe- und Tiefpunkte als Zwischenbilanz feststellen: durchwachsen. Aber das stimmt nicht für Avignon 2014. Hier gab es einen Konflikt – die Intermittants, die Theaterangehörigen mit Zeitverträgen, wehren sich dagegen, dass sie schlechter gestellt werden.

 

Und fast alle Theaterleute halten zu ihnen, vorne dran der neue Leiter, Olivier Py. Theater, das ist hier ein Beispiel für Zusammenhalt. Theater kann nur klappen, wenn jeder seinen Teil erfüllt, pünktlich, aufs Stichwort. Es ist eine kollektive Arbeit – und das Kollektiv hält zusammen, wenn die Schwächsten schlechter gestellt werden sollen.

 

Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl sollte auch auf der Ebene der Republik gelten, meint Py, und erinnerte an die Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

 

Das Festival d‘Avignon zeichnet sich in diesem Jahr durch diesen Zusammenklang von Kunst und Leben aus: Ein politisches Festival in des Wortes verwegenster Bedeutung.

Ulrich Fischer

 

 

Internet: www.festival-avignon.com