Aus blutiger Rache erwächst die Utopie der Freiheit

Aus blutiger Rache erwächst die Utopie der Freiheit 

Düsseldorf startet mit einer beeindruckenden „Orestie“ in die neue Spielzeit

Von Günther Hennecke

 

Düsseldorf – Dunkel ist die Szene, schwarze Stufen und Felsblöcke schrauben sich nach oben. Es ist eine unwirtliche Gegend, die zum Königspalast hinaufführt – der durch nichts als einen Vorhang gekennzeichnet ist. Als wäre dort oben eine Dusche. Doch gereinigt wird hier nichts. Es fließt Blut. Blut der Rache und der Vergeltung. Blut für Blut heißt die Devise.

Im Land archaischer Blutrache

Dass es ein Land der Blutrache ist, das Land einer Gesellschaft der Ehre und des Ruhms, wird erst später erlebbar. Wir befinden uns in Argos, im Reich Agamemnons, dessen Heimkehr nach zehn Jahren Krieg, Belagerung und Vernichtung Troias erwartet wird. Doch der da auftaucht (Thomas Wittmann), vorab als Held gepriesen und als siegreicher Feldherr gefeiert, wirkt im „Central“ des Düsseldorfer Schauspiels  wie ein Schreibtisch-Hengst. Aktentasche, Halbglatze und schwarze Brille. Erster Gedanke: So schlimm kann’s an Asiens Gestaden gar nicht gewesen sein. Und dass dieser Federfuchser seine geliebte Tochter Iphigenie getötet haben soll, um den Segen der Götter für den Krieg gegen die Troianer zu erlangen, wirkt wie ein fader Witz.

Kleid der Unschuld färbt sich rot

Das ändert sich schlagartig mit dem fast triumphalen Auftritt Klytaimnestras (Minna Wündrich). Strahlend weiß fließt das knöchellange Kleid über ihren Körper. Weiß wie die Unschuld, das sich später in mörderisches Rot verfärbt, wenn sie den heimgekehrten Gatten, den sie mit dessen Neffen Aigisthos (Stefan Gorski) betrogen hat, in einem wahren Blutrausch ermordet. Dass der Gatte freilich die Naivität und Chuzpe zugleich besitzt, Kassandra aus dem fernen Land mit ins eigene Haus zu bringen, dürfte Klytaimnestras Wiedersehensfreude nicht gerade gesteigert haben. Dabei haben sich beide eigentlich nichts vorzuwerfen: Sie beschmutzte mit dem arroganten Sixpack-Aigisth jahrelang das Ehebett, während es der Herr Gemahl seinerseits mit der erbeuteten Tochter Troias getrieben hat.

Die Atriden vernichten sich selbst

So hat jeder seinen Grund zum Mord, und das Atriden-Geschlecht dreht weiter am mörderischen Rad der Maxime Blut um Blut. Doch Aischylos, der die „Orestie“ vor genau 2475 Jahren auf die Bühne des Dionysos-Theaters in Athen brachte, kannte nicht nur seine Pappenheimer. Er kannte sich auch bestens aus in der mörderischen Vor-Geschichte seines Landes und entwickelte aus dem Chaos der vermeintlich von den Göttern gewollten Schicksals- und Blutrache die Vision, sich nicht auf die Götter zu berufen, sondern das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Konflikte  müssen dann auf gleichsam demokratisch-aufgeklärte Weise gelöst werden. Ob freilich das Volk, das sich in der Orestie aus dem zunächst einstimmigen Chor heraus entwickelt, diese Vision real werden lassen kann, die Garantie für die freie Gesellschaft ist, darf bezweifelt werden. Denn dass „das Volk“ a priori vernünftiger und damit „richtiger“ entscheidet als ein Herrscher, ist in der Geschichte nicht nur einmal als Illusion entlarvt worden.

Chor und Volk spielen sich in die Hauptrolle

In Simon Solbergs zunehmend packender Inszenierung steht am Ende eine nahezu paradiesische Sicht auf die Zukunft des Menschen. Sieht Kassanadra (Claudia Hübbecker) doch „den Tag kommen“, an dem „sich das Blatt  wenden wird“, und zwar zugunsten des Volkes. Vom Chor sehnsüchtig nach dem „Wann“ gefragt, versteckt sich die Zukunftsdeuterin hinter einem vielsagenden Lächeln.

Solbergs Regie sorgt für szenisch bestens eingängige Bilder. Dabei schreckt er weder vor Pathos noch Emotionen noch davor zurück, dem Chor eine wichtige, wenn nicht die wichtigste „Rolle“ des nur knapp zweistündigen Abends zuzuspielen. Wie er das zwischen Chor und Volk changierende Oktett, je nach Situation und Gefährdung,  in jeweils andere und neue Bilder fügt, mal als Stufen hinauf zum Thron, mal die Szene still verlassend – das zeugt von der großen Bedeutung, die seine Regie, ganz dem Willen des Autors Aischylos entsprechend, der Rolle des Chors zuschreibt.

Grandioses und vielfältiges Bühnenbild

Grandios gestaltet ist das Bühnenbild, das Solberg mit Ansgar Prüwer-LeMieux auf die relativ enge Fläche der Ausweichbühne „Central“ des Düsseldorfer Schauspiels gezaubert hat. Wenn sich etwa das Anfangsbild, das die zum Palast führenden Stufen und Felsbrocken zeigt, zu Beginn des zweiten Teils der Aischylos-Trilogie dreht, werden Gestänge und Aufbauten sichtbar, die auf eindrückliche Weise die Inszenierung begleiten. Einsamkeit und Getrenntsein werden Bild, wenn Elektra (grandios Lieke Hoppe) auf einem der sich bildenden Rohrgerüste, den Körper eingeknickt, ihre Emotionen in die Welt schreit, während Bruder Orest (mehr Getriebener als Überzeugungstäter: Jonas Friedrich Leonhardi) wie ein Häufchen Elend auf einem anderen Gerüst das Leid der Welt beklagt.

Gelungener Start in die neue Spielzeit unter Wilfried Schulz

Mit der „Orestie“ hat Intendant Wilfried Schulz zu Beginn der neuen und seiner zweiten Spielzeit am Düsseldorfer Schauspielhaus seine wieder einmal glückliche Hand bewiesen. Simon Solberg ist mit seinem 14-er Ensemble – die eindringliche Klangwelt schuf Thomas Klein – sowohl der klassischen Antike wie modernen Trends gerecht geworden. Ob das Goldene Kalb, das einige Male in einem Strahlenkrant auf der Rückseite der Szene auftaucht, hält, was es zu versprechen scheint, bleibt im Dunkeln. Und auch der auf einem Grabstein eingravierte Davidstern lässt Fragen offen.

„Central“ Große Bühne, Worringer Straße; Aufführungen am 17., 24. September; 3., 13., 19., 22. Oktober; 1 Std. 50 Min., ohne Pause; www.dhaus.de