Tief gebückt im Schweizer Kreuz

Stefan Bachmanns grandioser „Wilhelm Tell“ im Schauspiel Köln

Von Günter Hennecke

Köln. – Frank Baumbauer, seit Jahren renommierter Theater–Kollege, hatte ihn gewarnt: „Köln ist eine Schlangengrube“, erinnert sich Stefan Bachmann in einem aktuellen Interview. Baumbauer sollte recht behalten: Seit nun vier Jahren Schauspiel-Intendanz in der „Schlangenstadt“ war ihm eine rosige Zukunft prophezeit: Im November 2015, also vor exakt zwei Jahren, sollten sich ihm die Tore des Schauspielhauses nach dreijähriger Sanierung zu einem triumphalen Neubeginn öffnen.
Doch Pustekuchen: Erst Ende 2022, also schlappe sieben Jahre später, soll es soweit sein. Das freilich strapazierte selbst die Geduld und den Langmut des Schweizers allzu sehr. 2021 ist für ihn Schluss, das Ende der Fahnenstange erreicht, wie Bachmann vor wenigen Tagen wissen ließ.

Hochachtung vor Bachmanns Leistung

Er hätte länger bleiben können. Doch Kölns Kultur-Politiker haben ihm ungebührlich viele Stolpersteine in den Weg gelegt. Dabei hatte er, einer Sisyphos-Arbeit gleich, die Außenstelle im rechtsrheinischen Vorort Mülheim, Depot 1 und Depot 2 in einer alten Industriehalle, zu einem äußerst erfolgreichen Magneten für Theater-Fans entwickelt. Dass ein anderer, wenn es denn tatsächlich 2022 zur Wiedereröffnung des restaurierten Schauspielhauses in der Innenstadt kommt, sich im Jubel einer eigentlich beschämend inkompetenten Kulturpolitik sonnen darf, ist die bittere Erfahrung eines Theater- Mannes, dem alle Achtung für seine bisherigen Leistungen gebührt. Dabei ist er keineswegs verbittert, will er mit seinen Verzicht auf diesen Jubel doch auch einen Neuanfang möglich machen. Dazu gehört für ihn zudem ein neuer Mann an Kölns Schauspiel-Spitze.

Erst verwirrend, dann grandios

Apropos Spitze. Eine Spitzenleistung ist seine neueste Inszenierung, die er, einst selbst jahrelang Chef in Basel, in Koproduktion mit der Schweizer Bühne, jetzt auf die Spielfläche seines Hauses in Köln-Mülheim brachte. Der Applaus, der seiner „Wilhelm Tell“- Inszenierung nach nur gut 100 Minuten entgegenschlug, galt einer mitreißenden neuen Sicht auf den alten Haudegen aus Uri. Schiller ins Moderne versetzt – das gelingt anfangs ebenso verwirrend wie zunehmend grandios.

Die Welt hinter Brettern

Verblüffend ist bereits das Bühnenbild Olaf Altmanns. In einem Stück, in dem es vor hehren Werten nur so wimmelt, die Begriffe Freiheit und Selbstständigkeit im Überfluss über die Lippen rinnen, ist Altmanns „Obstkiste“ geradezu eine Gegenwelt. In ihr sind die Eidgenossen eingeschlossen wie frisches Gemüse. Eine riesige Bretterwand mit Luftschlitzen beherrscht die Szene. In sie eingelassen zwei zwergenhaft enge Einbuchtungen, engen Flözen im Bergbau ähnlich. Eine verläuft vertikal, eine zweite horizontal. Sicher kein Zufall, erinnern sie doch ans Schweizer Kreuz. Ein doppelsinniges Kreuz: Symbol für Leid und zugleich Sinnbild für eine verschworene Eidgenossenschaft. In seinen Gängen und um um sie herum hocken und kauern die Urschweizer wie Höhlen- Menschen, die dem Tyrannen trotzen. Bergbauern und Hirten sind sie. In einer zwar engen, aber stolzen und verschworenen Welt.

Schillers Jamben – eine Köstlichkeit

Dass diese Eidgenossen sprechen wie Ihnen der schweizerdeutsche Schnabel gewachsen ist, davor sei Schiller. Dass sie freilich Schillers flammenden Worte für die Freiheit in einer Art Stakkato, zunächst einem Metronom-Takt, dann musikalischen Rhythmen folgend, in die Welt hämmern, ist die zweite Überraschung, an die man sich gewöhnen muss- und schließlich gerne tut. Wohl nie in der Theater- Geschichte kamen Schillers fünfhebige Jamben so deutlich, ja einem Ritus gleich, über die Rampe.
Ungewöhnlich, aber grandios führt in diesem Sprachduktus Stefan Bachmann sein Ensemble, das die Bretterwand kletternd belebt, für Vereinzelung ebenso sorgt wie für Gemeinschaft. Und seien die Aktionen, durch die niedrigen Kreuzgänge bedingt, auch noch so eingeschränkt.

Gessler und Tell – zwei einsame Wölfe

Gessler (Thiemo Strutzenberger), ein einsamer Wolf, der seine geilen Machtgelüste spitzfindig ausspielt, steht einem nicht minder einsamen Mann namens Wilhelm Tell (Bruno Cathomas) gegenüber. Denn der lebt für sich und seine Familie und ist schon deswegen von keiner Ideologie zu vereinnahmen. Man reibt sich die Augen, ist verblüfft und am Ende von einer Inszenierung gepackt, die Schillers Tell auf wahrlich völlig neue Weise erleben lässt. Ein einzelnes Buh konnte dem Applaus nichts anhaben. Auch wenn sich der mit diesem „Tell“ Bachmann’scher Prägung bei aller Sympathie spürbar schwertat.

Aufführungen am 19. und 30. November; 16. und 17. Dezember; 105 Minuten ohne Pause; www.schauspielkoeln.de