Nachtigall, ick hör dir trapsen

Nachtigall, ick hör dir trapsen

Antikommunist über Karl Marx

 

Wer Uwe Wittstocks neues Buch liest, wundert sich, dass der Autor seinen „Karl Marx beim Barbier“ als „Roman“ bezeichnet. Lange Passagen sind wie eine Biographie gerschrieben, ein Sachbuch, ein umfänglicher Essay; erst zum Schluss lässt Wittstock, der bei prononciert konservativen Medien als Journalist gearbeitet hat, die Katze aus dem Sack.

Die Lektüre ist zunächst und vor allem informativ – über die Herkunft der Marxens, über die Epoche, in der Karl geboren wurde und aufwuchs, über das 19. Jahrhundert in den wichtigsten Facetten: ökonomisch, politisch, kulturell. Wittstock ist nicht nur kenntnisreich, er kann auch erzählen, selbst schwierige, sperrige Themen wie  Philosophiegeschichte  verwandelt er in ein Vergnügen.

Noch größeren Lesespaß bereitet die Aufarbeitung des chaotischen Familienlebens von Karl Marx, der nicht mit Geld umgehen konnte und in die schrecklichsten Verlegenheiten geriet.  Wunderbar wirkt die Freundschaft mit Friedrich Engels, Mitrevolutionär und Nothelfer mit Vermögen, der Marx schließlich ein für alle Mal aus der Finanz-Bedrouille half. Auch das schwere Schicksal von Karls Frau Jenny   erhält angemessen Raum – sie durchmaß Tiefen, die ihr Mitgefühl – auch des Autors – sichern.

Wittstock bettet die biographischen Episoden in eine Reise ein, die der schwer kranke Marx (kurz vor seinem Tod) 1882 nach Algier unternahm, um in der Wärme Heilung zu suchen (vergebens). Sie haben den Charakter eines Rückblicks auf das Leben, eines Fazits. Und da enthüllt sich’s, da wird die Absicht des Autors deutlich. Bei einem Spaziergang kommt Marx bei einem Fotografen vorbei, bestellt ein Porträt und lässt sich bei einem „Barbier“, wie es im Titel heißt, den weltberühmten Bart stutzen.

Wittstock überhöht den Besuch, er beschreibt seine Deutung expressis verbis: „Natürlich bleibt es eine Spekulation, aber eine recht gut begründbare, wenn man in Marx‘ überraschendem Entschluss, seinen Prophetenbart abzulegen, das heimliche, vielleicht sogar vor sich selbst verheimlichte Eingeständnis sieht, sich nicht mehr als Propheten zu betrachten, da die eigenen Zweifel an seinen politischen Prognosen zu groß geworden waren.“ (S. 266 f.)

Wittstock sammelt die gängigen Argumente gegen Marx und seine Philosophie, zur Konvention fügt er einen originellen Kronzeugen gegen diese noch heute wirkmächtige Weltanschauung hinzu: Marx selbst. Das schlägt dem Fass die Krone ins Gesicht.

Trotzdem: „Karl Marx beim Barbier“ ist lesenswert, informativ und ein Lektürevergnügen. Es ist vertrackt,. verzwickt, aber vor allem komisch: Offenbar ist die Angst von Marxgegnern wie Wittstock vor   der  Anziehungskraft der Revolutions-Prophezeiungen so groß, dass sie sie mit Marx selbst bekämpfen müssen. Es reicht nicht, ihre Furcht zu besiegen, dass der Prophet tot ist – er lebt ja sichtlich und fühlbar weiter. Marx muss also auch noch selbst widerrufen, zurücknehmen, dass er je ein Prophet war, um seiner Vorhersage der radikalen Umstürze das Bedrohliche zu nehmen. Die Inquisition legte Wert darauf, dass die Herätiker widerriefen. Öffentlich. Im Büßerhemd, mit spitzem Hut auf dem Kopf. Bevor sie verbrannt wurden. Die Ketzer und ihre Schriften. Genützt hat es den Hohen Herren nichts.

Wittstock muss nicht zum Friseur, sein Gesicht ist zumindest im Umschlagtext kahl; wenn er seiner Spekulation mehr Glaubwürdigkeit, seinen Prophezeiungen mehr Gewicht, Autorität und Wirkmacht verleihen will, sollte er  sich  vielleicht einen Bart wachsen lassen.

Ulrich Fischer

 

Uwe Wittstock: Karl Marx beim Barbier. Blessing. 288 S. – 20,60 €.