Zerfall

Zerfall

Marthalers „Übermann“ nach Alfred Jarry im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

 

HAMBURG. Dass  Christoph Marthaler sich für seinen neuen Abend „Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch“ (1902) auf Alfred Jarry beruft, ist überraschend. Denn Jarrys Humor ist, wie jeder weiß, der den „Schreiße“ schreienden Ubu, Jarrys berühmteste Figur, auf der Bühne erlebt hat, aggressiv – Marthaler hingegen melancholisch.

 

Am Anfang begegnen wir uns selbst auf der Bühne – das Publikum kommt ins Theater.  Anna Viebrock hat für das Bühnenbild eine Mischung aus Foyer und kaffeebecherbewehrter heruntergekommener Teeküche entworfen. Die Zuschauer werden in Angst und Schrecken versetzt: eine Infostimme teilt mit, es habe auf der Sonne einen Sturm gegeben, der bei uns auf der Erde bewirke, dass nach hundert Minuten die Energie erschöpft sei und das Licht ausgehe.

 

Die Sprache hat Autorität, weil sie so voller Fremdworte ist, die wie termini technici wirken, so dass man als Laie eine Warnung von Fachleuten zu hören meint, denen jeder zu glauben geneigt ist.

 

Das ist Alfred Jarrys Strategie, der sich selbst zum ‚Pataphysiker  (mit einem Apostroph vorne weg) ernannte und  definierte: „Die ‚Patapysik ist die Wissenschaft imaginärer Lösungen, die den Grundmustern die Eigenschaften der Objekte, wie sie durch ihre Wirkung beschrieben werden, symbolisch zuordnet.“ Der Leser*in, der oder die das im ersten Anlauf für tiefschürfend hält und nicht versteht, bemerkt vielleicht im zweiten oder dritten Versuch, dass die Definition Quatsch ist, Blödsinn – vielleicht ein Angriff auf die Wissenschaft, die behauptet zu erklären, was sie verfehlt. Sicherlich eine Attacke auf Leichtgläubigkeit.  Auf unser aller Leichtgläubigkeit.

 

Christoph Marthaler versucht diesen Angriff auf das etablierte Denken szenisch mit Hilfe von acht Damen und zwei Herren umzusetzen. Einer der Herren beispielsweise kommt mit einem Fahrrad die Treppe herab, setzt es auf ein Podest und eine Vorrichtung, die das Hinterrad einen Daumenbreit über dem Boden belässt. Er kann nun treten, so viel er will, das Hinterrad dreht sich durch die Luft, das Rad bewegt sich keinen Millimeter. Vergeblichkeit der Anstrengung.

 

Die Damen folgen Musikstücken, die virtuos gesungen werden, mit Bewegungsfolgen auf Barhockern – das ist weder plausibel noch wirklich komisch. Und eigentlich nicht unterhaltsam. Oder der Pianist verspricht, er wolle uns, dem Publikum, nun einmal zeigen, was man mit der Sprache (alles) machen könne – aber er hört auf, bevor er wirklich beginnt und gibt uns Zuschauern die Schuld am Scheitern. Abermals Vergeblichkeit.

 

Den Szenen fehlt, was früher viele Marthaler-Abende auszeichnete – ein aus Paradoxen, von Phantasie gespeister  Humor, der immer wieder das Publikum zum Lachen reizte. Und der Abend war, obwohl er keine zwei Stunden dauerte, zu lang, er wirkte, je länger er sich hinzog, immer langweiliger. Mit einer Ausnahme:

 

Höhepunkte markierte Isabel Gehweiler am Cello – sie spielte meisterhaft. Ihr gehörte auch die letzte Szene. Sie setzte den Bogen an und ihr Instrument, als wäre der Bogen eine Säge, zerfiel.

 

Wie der Abend. Wie die Welt. Wie das Leben. Blackout. Schluss. Ende.

 

                                                                                          Ulrich Fischer

 

Aufführungen am 2. und  26. 4. . Spieldauer: ca. 2 Stunden