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Kritisch-liebevoller Blick zurück

Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“ überrascht in Düsseldorf
Von Günther Hennecke

Düsseldorf – Die Aristokratie bleibt erstmals völlig draußen. Insofern ist Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“ das erste rein „bürgerliche Trauerspiel“, weil es sich ausschließlich innerhalb einer (klein-)bürgerlichen Welt abspielt. Anders etwa als Lessings „Miss Sara Sampson“ und Schillers „Kabale und Liebe“, beide zwischen Bürgertum und Adel gespannte Dramen. 

Alles Menschliche wird erstickt

Andererseits ist Hebbels Stück das letzte seiner Art, ehe Sozialdramen ihren Siegeszug beginnen. Es geht in ihm um Ehre und Familie, um Moral und Feigheit – unter Meister Antons bürgerlichem Schutz-Dach, unter dem auf Dauer freilich alles Menschliche zu ersticken droht. 

„Alle Mauslöcher verstopft“

Klaus Schumacher, 53, Chef des jungen Schauspiels Hamburg und ausgezeichnet mit dem Deutschen Theaterpreis „Der Faust“, öffnete im Central des Düsseldorfer Schauspielhauses die Tür zu Hebbels Drama, in dem, laut Autor und  seiner eigenen tragischen Perspektive, „alle Mauslöcher verstopft“ sind. Kein Ausweg, nirgends.

Spielerischer Beginn

Unbeschwert beginnt es, fast spielerisch – und lässt zugleich etwas von der Enge spüren, in der die Menschen in diesem Drama  zerrieben werden. Von rigorosen Moralvorstellungen, Ehrbegriffen, spießiger Bürgerlichkeit. Auf der kleinen „Central“-Bühne des Düsseldorfer Schauspiels lädt ein etwa drei mal sieben Meter großer Kasten zum Sehen ein. Zum Zuschauer hin gekippt, weiß und unbelebt, schaukelt ein Biedermeier-Kleid leicht hin und her. Hinter ihm führt eine Treppe mit fast kniehohen Stufen in den Bühnen-Himmel, der schnell zu Hölle werden wird. 

Hochzeits- wird zum Leichenkleid

Es ist das Hochzeitskleid von Claras Mutter (Tanja Schleiff), das in der Szene schwebt. Das Kleid, das auch zu ihrem Leichenkleid wird. In ihm stürzt sie tot zu Boden, wenn sie vom vermeintlichen Diebstahl und der Inhaftierung ihres Sohnes Karl (Alexej Lochmann) erfährt. Dass Karl zu unrecht verdächtigt wird, macht sie nicht wieder lebendig. So ergeht es fast allen Figuren in Hebbels vermeintlich verbohrt-steinzeitlichem Sitten- und Moralpanorama aus dem Jahre 1843. Will doch selbst Leonard, Klaras Verlobter (Christof Seeger-Zurmühlen), nichts mehr von ihr wissen. Das Karriere-Ekel macht sich  auf und davon, obwohl Klara, die sich ihm  in einem schwachen Moment hingab, von ihm schwanger ist. Sie tat es aus Trotz und Schmerz, weil sich ihre Jugendliebe, der „Sekretär“ (Henning Flüsloh) von ihr getrennt hatte.

Im Netz rigoroser Moral verfangen

Doch wäre all das kaum der dramatischen Würdigung wert, könnte sich Papa, der ehrwürdige Tischlermeister Anton (Jan Maak), aus dem Netz seiner rigorosen Moralvorstellung lösen. Doch er verfängt sich immer mehr in ihr – und reißt Töchterchen Klara (Cennet Rüya Voß) in denselben Abwärtstrend. Hat sie dem Papa doch, als Mama ins Jenseits entschwand, geschworen,ihm „niemals Schande zu bereiten“. Sonst, so seine glaubhafte Drohung, würde er sich die Kehle durchschneiden.

Eine wahre Welt voller Tragik

Was nach Moritat klingt, fern aller Moderne und Liberalität, längst aus der Zeit gefallen, wird in Schumachers Regie zu einem zunehmend packenden Stück Theater. Stellt er  doch weder die Personen bloß noch erhebt er sich über eine vermeintlich steinzeitliche Moral. Im Gegenteil, seine Inszenierung führt uns in eine Welt, in der die Menschen wahrlich tragisch agieren – und enden. Sich über deren tödliche Konsequenzen zu erheben, wäre auch an Arroganz kaum zu überbieten. Kurz: Hebbels „bürgerliches Trauerspiel“ wird in Düsseldorf zu einem Drama voller Menschlichkeit. In ihm gelten Worte noch etwas, wird Verantwortung, für sich und andere, nicht zum Begriff, der sich biegen und beugen lässt, wie es gerade passt.
Wahrhaft „authentische“ Menschen

So gerät Hebbels Stück aus einer vermeintlich längst abgeschüttelten Zeit unvermittelt und (fast) überraschend zu einem Drama, das packt, mitreißt – und uns Heutige zum genauen Hingucken und zur Selbstkritik (ver-)führt. Dank einer Regie, die den Figuren alle Wort– und Bildkraft verleiht. Sie sind, was heutzutage zum hohlen Schlagwort zu verkommen droht, wahrhaft authentisch.

Traurige und liebevolle Momente

Auf seinem Inszenierung-Weg schafft Schumacher mitreißend traurige, aber ebenso liebenswert-liebevolle Momente. Wenn die zuvor so brave, sich scheinbar dem Schicksal ergebende Klara, in einem zuvor kaum vorstellbaren Anfall von Wut,  dem Verräter und Karrierist Leonard an die Gurgel geht, ihn niederreißt und auf seine Brust springt, während dessen Kopf über dem Kasten-Rand hängt, ist das eine grandios-explosive Szene. Und wenn sie und ihr Bruder Karl, entlassen aus falscher Anklage, sich alleine begegnen, gerät dieses Bild, in seiner Zartheit und Liebe, zu einem der anrührendsten an diesem Abend. 

Abend voll großer Konsequenz

An einem Abend, der von mitreißender  Konsequenz ist. Wie ein museales Spiel beginnend, als Trauerspiel Fahrt aufnehmend, erblüht am Ende eine große Tragödie. Und wenn Papa erfährt, dass sich Klara in den Brunnen gestürzt hat, „versteht“ er „die Welt nicht mehr“. 
Wage doch heute einer von uns „Aufgeklärten“ zu behaupten, dass er „die Welt versteht“! Es dürfte sich dabei um einen Witzbold, einen Schelm oder gar um einen Politiker handeln. Was also, bitte sehr, hat sich seitdem, seit Hebbels Welt um Klara und Papa Anton, wirklich geändert?
Langer Applaus für die „glorreichen Sieben“, die diese Inszenierung zu einem kleinen Theater-Wunder werden ließen. 

Auff.: 27. April; 7., 21. Mai; www.dhaus.de [1]———-„Maria Magdalena“Von Friedrich Hebbel
Premiere am 27. April 2019 Düsseldorfer Schauspielhaus
Regie: Klaus SchumacherBühne: Katrin PlötzkyKostüm: Karen SimonMusik: Tobias VethakeLicht: Konstantin Sonneson
Fazit: Ein erstaunlich moderner, bildkräftiger und konsequenter Abend. Friedrich Hebbel – noch lange nicht von gestern!