Unentbehrlich

Altmeister Roberto Ciulli inszeniert Eugene O’Neill in Mülheim

 

Roberto Ciulli ist ein alter Meister seines Fachs. Es gelingt dem jetzt 80jährigen Regisseur immer wieder, seine reiche künstlerische wie seine Lebenserfahrung in Inszenierungen einfließen zu lassen: So auch jetzt wieder bei Eugene O’Neills Meisterwerk „Eines langen Tages Reise in die Nacht“.

 

Mülheim an der Ruhr (dpa). – „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ ist eine mehrschichtige Metapher – zunächst einmal deutet Roberto Ciulli sie in seiner Neuinszenierung in Mülheims Theater an der Ruhr ganz eng an Eugene O’Neills (1888 – 1953) Text aus: Im Mittelpunkt steht Mary, die Mutter der Familie Tyrone. Sie ist morphiumsüchtig, alle wissen es: Vater James und Jamie wie Edmond, die erwachsenen Söhne – aber alle schweigen, wenn sie nicht gerade zu stark dem Whiskey zugesprochen haben. Lebenslüge und Selbstbetrug beherrschen die Familie und werden von der jungen Generation weitergetragen.

 

Am stärksten betont Ciulli die existenzielle Seite des Vierakters: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ steht hier für das zum Grab hineilende Leben. Die Schauspieler sind leicht weiß geschminkt. Klaus Herzog als Vater James hat eine auffallend rote Nase, nicht nur, weil er ein starker Trinker ist, sondern er soll auch an einen Clown erinnern. Die absurden Dramatiker fassen den Menschen als Clown auf – und tatsächlich gilt O’Neill in der Theatergeschichte als genialer Vorläufer der Absurden wie Beckett und Ionesco.

 

Falschheit, Heuchelei und Selbstbetrug

 

Das ganze Ensemble spielte glänzend. Simone Thoma entfaltet alle Facetten der Falschheit; ihre Mary Tyrone, eine eisenharte, engherzige, dünkelhafte Egoistin, gibt sich als fragile, mädchenhafte Mutter; sie spielt ihre körperliche Zerbrechlichkeit gnadenlos aus. Niemand wagt, wegen ihrer zur Schau gestellten Schwäche, sie ernsthaft zur Rechenschaft zu ziehen. Denn Mutter Mary greift strategisch, wie alle, die anderen Familienmitglieder an; ihre Schuldzuweisungen dienen dazu, von den eigenen Lastern abzulenken und die angegriffenen Gegner vor Attacken abzuschrecken.

 

Ciulli und seine Ensemble malen so ein Porträt, das völlig im Gegensatz zur heilen Familie steht, sie sonst so gern (nicht nur) in den Vereinigten Staaten beschworen wird. Die Diagnose, die O’Neill   seinem Meisterwerk als kritischen Kern eingeschrieben hat, sein Land, die USA seien im Kern krank, zerrüttet, die Familie Tyrone mit ihrer Heuchelei repräsentierten die Nation, spielt in Mülheim kaum eine Rolle. Dennoch entbindet die Verlogenheit, die immer wieder neu und anders thematisiert wird, neben dem Ernst auch eine große Komik – die Akteure haben offensichtlich Freude, diese Raffinesse und Komplexität der Charaktere zu spielen. Die kurze, nur knapp zweistündige Aufführung gewinnt so neben Tiefe und Scharfsinn auch Witz und Unterhaltsamkeit. Allerdings kommt nur wenig vom Witz über die Rampe – es wurde bei der Premiere am Donnerstag in Mülheims Theater an der Ruhr zu wenig gelacht.

 

Alte Meister überzeugen durch Erfahrung und Können: sie sind unentbehrlich.

Ulrich Fischer