Der Auftrag

Meera Syal- Zehrunisa Husain, Anjli Mohindra - Kehkashan (Zehrunisa's daughter) Foto: Richard Hubert Smith2
Meera Syal- Zehrunisa Husain, Anjli Mohindra – Kehkashan (Zehrunisa’s daughter)
Foto: Richard Hubert Smith2

 

 

 

David Hares „Behind the Beautiful Forevers“ in London uraufgeführt

 

LONDON. David Hare, 1947 in Sussex geboren, ist Filmemacher, Drehbuchautor, Theaterregisseur, vor allem aber Dramatiker. Er ist politisch engagiert, seine Stücke sind gesellschafts-, oft auch systemkritisch. Sie werden in aller Welt, vor allem in englischsprechenden Ländern, von namhaften Bühnen gespielt. Königin Elisabeth hat ihn zum Ritter geschlagen. Die Times rühmt Sir David als „Britain’s leading contemporary playwright“ – „Britanniens führenden zeitgenössischen Dramatiker“.

 

 

 

Ein Zweiakter, der es in sich hat

 

Sein neues Stück heißt „Behind the Beautiful Forevers“ – auf Deutsch vielleicht: „Hinter der Schönheit – für immerimmerimmer“. Der Bühnentext enthüllt, was gemeint sein dürfte: Auf Plakaten werben Reiseunternehmen mit SonneHimmelStrand für Ferien im Süden. Nicht nur ein Plakat, sie werden in Reihe geklebt. Deswegen statt des „Forever“ die grammatisch völlig unstatthafte Mehrzahl: „Forevers“. Was verbirgt sich hinter („Behind“) diesen Plakaten, oder genauer: Was verbergen, sollen sie verbergen? Das nackte Elend. Süden bedeutet in Wirklichkeit Armut, Unwissenheit und Not. Gleich der Titel zeigt den Gestus des Stücks: Aufklärung und Anklage! Und ein Anrennen gegen „Forever!“ – Never!

 

Sir David hat das gleichnamige (mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete) Buch von Katherine Boo für die Bühne bearbeitet. Der Zweiakter spielt 2008/09 in Indien, in Annawadi, einem Slum in Sichtweite von Mumbais internationalem Flughafen.

 

Abdul, der arme Held

 

Abdul lebt dort mit seiner Familie. Er ist zwischen 15 und 19 Jahre alt, so genau weiß das niemand. Seine Eltern hatten wichtigeres zu tun, als sich um eine Geburtsurkunde zu bemühen – sie sind arme Leute. Abdul ist erfolgreich im Müllgeschäft. Als Junge hat er Müll gesammelt, dann stieg er Dank seiner Intelligenz und seines Geschicks zum Zwischenhändler auf. Er kauft von einfachen Müllsammlern und verkauft an Großhändler. Abdul ist die Säule der Familie. Wegen seines Erfolgs will und kann sich die Mutter eine Arbeitsfläche in der Küche der Hütte, in der die Familie haust, leisten. Dieser ungeheure Luxus ruft den Neid einer Nachbarin hervor – und damit beginnt die Katastrophe.

 

An den Haaren herbeigezogene Gründe führen dazu, dass Abdul im Gefängnis landet – zumal er als Moslem in einer von Hindus dominierten Gesellschaft von vornherein verdächtig ist. Abdul wird von der Polizei brutal geschlagen – es kostet, wenn er weniger häufig misshandelt werden soll. Die Polizei ist korrupt, das Gerichtswesen ist korrupt, die Zeugen sind korrupt. Wenn am Ende nach langen Jahren Abdul freigesprochen wird, ist die Familie längst ruiniert.

 

Krebs Bestechlichkeit

 

Sir David folgt nicht nur Katherine Boos (lesenswertem) Buch, er spitzt auch zu. Am liebsten mit Brechtschen Verfremdungseffekten, Sir David ist ein glänzender Brecht-Kenner, er hat „Mutter Courage“ fürs englischsprechende Theater bearbeitet. Hier lässt Hare die Richterin auftreten, sie durchbricht die vierte Wand und wendet sich – vertraulich selbstverständlich – an uns, das Publikum. Sie ist eine elegante Erscheinung, steht in völligem Gegensatz zu den verdreckten und niedergedrückten Armen – sie gehört zu einer anderen Klasse. Das weiß sie – und freut sich. Sie freut sich, dass sich die Armen mit- und untereinander streiten. Wenn sie sich streiten, haben sie keine Kraft gegen die (Einfluss)Reichen zu kämpfen. Und das ist gut so! – Meint die Richterin.

 

Solche Eingriffe beheben einen Mangel von Boos Buches: Sir David weist darauf hin, dass die Armen heute schlechter dran sind als früher – ihnen fehlt eine Waffe. Sie wissen nicht mehr, wer ihr Gegner ist, Abdul ist orientierungslos. Wie alle. Die politische Dimension fehlt ihnen. Sir David ist seit seinen Anfängen als Mann der Bühne ein Kämpfer, er hat als Dramatiker ein Feuer, das mitunter an das von Schiller erinnert, wenn der um Freiheit kämpft.

 

Gegen den Neoliberalismus

 

David Hare arbeitet klar heraus, dass der Neoliberalismus sein Versprechen nicht hält, dass jeder aufsteigen, sich von der Armut befreien kann. Die Armut ist eine Fessel, die immer die Gesundheit ruiniert, öfter das Leben kostet – das ist bei Abdul der Fall wie bei all den anderen Figuren des Dramas. Es ist reich an Charakteren wie Geschichten – auf der Bühne gibt es mehr als 30 Figuren. Alle Konflikte – die zwischen Muslimen und Hindus, die zwischen den Kasten, zwischen Mann und Frau – werden einem Hauptkonflikt untergeordnet, dem zwischen Arm und Reich. „Behind the Beautiful Forevers“ ist eine Anklage, die Anklage, die David Hare schon als junger Dramatiker erhob: Die Klassengegensätze sind unmenschlich! Die Konsequent kann   jeder selbst ziehen: Sie müssen überwunden werden, weil sie überwunden werden können.

 

Alltag & Kunst

 

Das beste Bild in diesem üppigen Stück bezeichnet die Grundsituation: über Annawadi, den Slum, das elende Armenviertel, fliegen, mit ungeheurem Lärm, Abgaswolken unter sich lassend, die riesigen Jets der Reichen hinweg. Gleichgültigkeit ist der Kern dieses zentralen Bildes, Gleichgültigkeit in des Wortes entsetzlichster Bedeutung. Hier wird ein Prinzip von Sir Davids Kunst glücklich umgesetzt: Der Dramatiker knüpft an einer ganz gewöhnlichen Alltagssituation an (Flugzeug landet), lädt sie mit Bedeutung auf und hebt sie ganz hoch über dem Alltag als Symbol – eine bewährte ästhetische Strategie des Realismus.

 

Der Neue

 

Rufus Norris führt Regie – der designierte Intendant des Royal National Theatres, des Flaggschiffs britischer Bühnen. Norris wird im Frühsommer nächsten Jahres Intendant. Norris inszeniert ganz in der Tradition britischer Regisseure – er stellt sich in den Dienst des Dramatikers, seines Stücks, der Schauspieler und des Publikums. Norris breitet das Stück übersichtlich auf der riesigen Bühne aus – es wird im Großen Haus des Nationaltheaters, im Olivier, gespielt – und präpariert heraus: Du kannst klug und loyal sein wie Abdul, du kannst liebenswürdig und hilfsbereit sein, ehrlich, fleißig und idealistisch – es nützt nichts, du bis zum Scheitern verurteilt. Einmal arm, immer arm!

 

Aber Norris bleibt mit seiner Inszenierung hinter dem Feuer der Anklage zurück, das Hare seinem Stück eingeschrieben hat. Das Stück ist besser als die Inszenierung, sie ist zu behäbig, mitunter bei folkloristisch anmutenden Szenen gar versöhnlich. So kommt der wohl wichtigste Bestandteil von David Hares ganzem Schaffen nicht angemessen über die Rampe: Die Courage.

 

 

Tolles, riesiges Ensemble und ein Hang Sir Davids

 

Das Ensemble spielt makellos. Shane Zaza verkörpert Abdul als netten, ja als mustergültigen jungen Mann – ihm fehlt nur eins: Die Einsicht, dass er den Aufstieg nicht schaffen kann. Eine Kritik des Systems liegt ihm fern, kann er nicht leisten. Lesen und Schreiben ist schon eine Kunst, die im Slum nur wenige beherrschen. Der Kritik des Schulsystems widmet das Stück einen eigenen (satirischen) Schwerpunkt. Eine brave Studentin lernt die Inhaltsangabe von einem Roman Virginia Woolfs auswendig – den sie nicht versteht. Kunstvolle innere Monologe von britischen Damen der besten Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts gehen völlig an ihrer Lebenswelt vorbei – der ganze Lehrplan hat nichts mit ihr und ihrem Elend zu tun. Studieren heißt dressiert werden. Die Vorstellung, Arme könnten Kultur haben, ist den Machern dieser Lehrpläne fremd. Das macht Sir David wütend – und er zerpflückt solche Auswendiglernerei. Solche Bildung ist Missbildung – Zeit für giftige Glossen. Und die beherrscht Hare.

 

Sir David hat seine schönsten Rollen für Frauen geschrieben – sie gelten ihm, wie George Bernard Shaw, als Verkörperungen des Fortschritts. Auch hier: Die Damen haben die besten, die ergiebigsten Rollen.

 

 

Flüche, Beleidigungen & Unflätigkeiten

 

Ein wichtiges Sujet, ein inhaltlich wie formal glänzendes Stück, zugespitzte Dialoge: Hare gibt seinen Erniedrigten und Beleidigten ganz kurze Sätze, manchmal nur drei, vier Worte. Der Mangel an Komplexität wird durch Prägnanz mehr als aufgewogen. Beim Streit fliegen unflätige Beschimpfungen durchs Theater, FourLetter-Words, really shocking. Manchmal bleibt dem Publikum die Spucke weg, meistens aber wird gelacht. Sir David ist wieder einmal ein Meisterwerk gelungen.

 

Ähnlichkeiten zu Charles Dickens, etwa zu Oliver Twist und David Copperfield, sind unübersehbar. David Hare stellt sich in diese gesellschaftskritische Tradition, die in aller Welt bewundert wird – und dekonstruiert sie. Charles Dickens ziert seine Romane mit einem Happy End – davon ist in „Behind the Beautiful Forevers“ nichts geblieben. Charles Dickens war versöhnlich – David Hare lässt das Ende offen – er bleibt unversöhnt.

 

Die Armut dauert an. Hare gibt seinem Publikum einen Auftrag.

 

Ulrich Fischer

 

Internet: www.nationaltheatre.org.uk – Box office: 0044 20 7452 3000

Katherine Boo: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben. Droemer, München 2012, 335 S.