Schwer

Alice Birchs  „Anatomie eines Suizids“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

HAMBURG. Schwermut wird offenbar ein Schwerpunktthema dieser Spielzeit am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Nachdem in der Eröffnungsuraufführung von „Serotonin“ nach dem Roman von Michel Houellebcq eine Depression im Mittelpunkt stand, wird diese seelische Krankheit jetzt noch einmal an gleich   drei Beispielen in der deutschsprachigen Erstaufführung von „Anatomie eines Suizids“ auf der großen Bühne des Schauspielhauses in Hamburg untersucht. Während in „Serotonin“ eine nachvollziehbare Analyse der Depression steht, vertritt die „Anatomie eines Suizids“ die These, dass sich dieses Leiden menschlicher Erkenntniskraft – zumindest bislang –  im Grunde entzieht.

Alice Birch ist eine britische Nachwuchsdramatikerin, ihr Stück wurde am Royal Court   in London uraufgeführt, eine Bühne für die Avantgarde. Die junge Autorin stellt mehrere Frauen nebeneinander, die, an einer schweren Depression leidend, selbstmordgefährdet sind. In einer früheren Epoche versuchten Ärzte, die PatientInnen mit Stromstößen zu behandeln, eine Tortur, die nichts half; in der darauffolgenden Generation fanden Mediziner und Psychologen auch kein Mittel und am Ende, in der Zukunft, steht eine klare Szene, in der eine Frau von ihrer Ärztin verlangt, sie  zu sterilisieren. Sie will sicher gehen, keine Kinder bekommen zu können, damit sie die Krankheit nicht weitergeben kann. Es ist besser, nie geboren zu werden, als mit einer Depression zu leben und zu leiden.

Sandra Gerling – Foto: © Stephen Cummiskey, 2019.

Bis zu diesem Ende gibt es innerhalb von zwei Stunden eine Fülle von Szenen, in denen vor allem Paare miteinander reden, z.B. Mann und Frau, Vater und Tochter, Arzt und Patient. Drei Paare gruppiert  Katie Mitchell, die Regisseurin der deutschen Erstaufführung, die auch in London bei der Uraufführung (2017) Regie geführt hatte, nebeneinander. Die Dialoge sind häufig nicht zu verstehen, weil die Paare gleichzeitig sprechen,   Redefetzen überlagern einander. Statt begrifflicher Klarheit ergibt sich eine Stimmung – kein Verständnis für die Kranken, die Patientinnen isolieren sich. Es gibt keinen Zugang zur Krankheit, sie ist ein Rätsel.

Die Aufführung ist schwer zu ertragen – darin liegt vielleicht ihr größter Verdienst. So ergibt sich über den szenischen Umweg eine Annäherung an die Qual der Leidenden.  Alex Eales hat eine betondominierte Bühne entworfen, die Ausweglosigkeit beschwört, Hässlichkeit, Schäbigkeit, Grau und Grauen. Die Außenwelt beschreibt die Innenwelt. Das Licht wirkt kraftlos, kurz vor dem Verlöschen. Lähmung wird evoziert, es fehlt Kraft, etwas zu verändern.  Aussichtslos, trostlos wie bei Dante, der über das Eingangstor seiner Hölle schrieb: „Lasst alle Hoffnung fahren!“ Entfernt erinnert  Birchs Stück an das Drama „4.48 Psychose“ und an dessen Autorin, an Sarah Kane, die an einer Depression litt und sich das Leben genommen haben soll. Im Programmheft erinnert die Dramaturgin, Sybille Meier, an Frauen, die Suizid begangen haben, allen voran Virginia Woolf.

Soll das Stück zeigen, dass die Lage der Frauen so aussichtslos ist, dass sie depressiv werden müssen? Das Stück ist, obwohl die drei Protagonistinnen Frauen sind, kein Suizidgefährdeter ein Mann, keine feministische Anklage gegen eine phallisch dominierte Welt. Es gibt, zumindest in dieser deutschsprachigen Erstaufführung, keine Analyse, keine „Anatomie“, wie der Titel verspricht.

Die Krankheit wirkt als Rätsel. Der Rest ist Schweigen.

                                                                                   Ulrich Fischer

Nächste Aufführung am 20. und 21. 10.; 14. 11.; 4. und 22. 12. Spieldauer: ca.2 Stunden.