In 80 Minuten ist alles vorbei



Im Kölner „Bauturm“ und Bochums „Prinz Regent“ geht’s um nichts weniger als die Geschichte der Menschheit

Von Günther Hennecke

Köln – Kann das gutgehen? Eine „Geschichte der Menschheit“ zu schreiben, die sich zudem ausdrücklich „kurz“ nennt? Auf der Bühne? Auf der des Kölner privaten, also definitiv kleinen Bauturm-Theaters? Sie wagen sich tatsächlich ans scheinbar Unmögliche. Mit dem Chef des Bochumer „Prinz Regent Theaters“, Hans Dreher als Regisseur, hoben die Bautürmler mit den Bochumern in Koproduktion das „Projekt“ genannte Unternehmen namens „Der Mensch – die fast vollständige Geschichte“ aus der Taufe.

Kratzer am Homo Sapiens

Natürlich haben sie sich „abgesichert“, orientieren sie sich doch an zwei Literatur- Bestsellern. An Juval Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und an Bill Brysons „Kurze Geschichte von fast allem“.  Dass diese Autoren ordentlich am Idealbild des Homo Sapiens kratzen, dürfte die Macher besonders gereizt zu haben, das Projekt in Angriff zu nehmen. Wie aber kratzt das Theater am menschlichen Erbe? Bleibt wenigstens ein Rest an Hoffnung übrig? Hoffnung aufs Überleben? Und sei alles auch noch so „kurz“?

Schneisen durch die Jahrtausende

Ein gemischtes Duo schlägt Schneisen durch die Jahrtausende. „Er“, Jonas Baeck, macht uns, als säßen wir in einem biologischen Seminar, mit den Atomen vertraut, aus denen der Mensch gebildet ist. „Sie“, Lisa Bihl, sitzt, einer griechischen Seherin gleich, im Hintergrund und durcheilt den griechischen Götterhimmel. Moderne Naturwissenschaft, nicht möglich ohne die Griechen und ihre Götter. Ein rasanter, ein bipolarer Auftakt.

Sex ohne moralische Schranken

Es folgt ein Blick ins menschlich-tierische Zwischenreich, in dem sexuelle Verbindungen keiner Moral unterworfen sind. Es geht um nichts als um den Erhalt der Gattung. Noch jagen die Menschen, noch sammeln Sie, noch sind sie keine Sklaven der Erde.

Sprachbegabter Unhold

Schließlich ist es die Sprache, die den Menschen zu Menschen macht, kann doch nur er über Dinge reden, die es gar nicht gibt. Doch er ist auch der „Unhold“, unter dessen Füßen ganze Tier-Völker zermalmt werden.

Der Weizen – das Ende der Freiheit

Doch schlimmer ist eins seiner „Produkte“: der Weizen. Macht der ihn doch zum Sklaven: Bücken muss er sich, völlig unnatürlich bewegen, um dank des Getreides leben zu können. Aus dem freien „Wildbeuter“ ist der Ackerbauer geworden, der zudem noch Haustiere zu seinem Besitz degradiert.

Das hohe Lied auf die Erfinder der Schrift

Die Sumerer schließlich, die Erfinder der Schrift, werden gefeiert. Und der Siegeszug  des Geldes ist plötzlich alles andere als der Triumph des Kapitalismus: Es wird zu einem  Vertrauensbeweis höchster Güte, denn wer wäre bereit, wäre es nur einfaches Papier, dafür wertvolle Dinge zu opfern. „Geld braucht Vertrauen“.

Großartig agierendes Duo

Der 80-minütige Abend ist eine Tour d‘horizon, dessen großes Kapital das grandios agierende Darsteller-Duo ist. Von seinen Tiraden lebt er. Und wenn die beiden aus der Rolle der Darsteller in die scheinbar privater Auseinandersetzungen, also aus der „Rolle“ zu fallen scheinen, die sie eigentlich spielen, sind  gerade damit immer wieder neue und die Theorie belebende Kontrapunkte gesetzt.

Liebe zum Menschen – trotz aller Schwächen

Wenn dann die Jahrtausende durchschritten sind, der Mensch kaum mehr dem hehren Bild von der Krone der Schöpfung entspricht, wird es doch noch ganz menschlich. Was auch immer kommen mag, der künstliche, austauschbare und möglicherweise ewig lebende Mensch: Dem realen, dem von heute, dem mit allen zerstörerischen, miesen, aber auch kostbaren Eigenschaften versehenen Homo Sapiens wird schließlich das Hohe Lied gesungen.

Rilkes Bekenntnis zum Leben


Da feiert Rilkes Bekenntnis für die Liebe und das Leben Triumphe, um den Menschen vor dem Abgrund der Künstlichkeit zu retten. Denn mag da kommen was kommt, „Auf schwanker, gefährlicher Bahn“/… „ich schließe die Augen und sage:/ Ich habe geliebt und gelebt“.

Große und intensive Beifallsstürme nach 80 Minuten.
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Koproduktion des „Theaters im Bauturm“, Köln, und des „Prinz Regent Theaters“, Bochum

Aufführungen in Bochum: 15.,16.,17. November; 20.,21. Dezember
Aufführungen in Köln: 22.,23.,24. November; 7.,8.,13. Dezember
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„Der Mensch – Die fast vollständige Geschichte“
Inspiriert von Yuval Noah Harari und Bill Bryson

Kölner Premiere am 8. November 2019
Bochumer Premiere am 15. November 2019

Regie: Hans Dreher
Ausstattung: Rabea Stadthaus
Technik: Dirk Baron, Norman Heinen und Raphael Heym
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Kürz und bündig: Eine kurzweilige Zeitreise durch die Geschichte der Menschheit, die vom mitreißend frech agierenden Darsteller-Duo lebt.