First Class

„Die Wahl“ von David Hare zum ersten Mal auf Deutsch

BREMEN. David Hare, 1947 in England geboren, ist nicht nur „Britain’s leading contemporary playwright“, wie die Times festhielt, sondern auch einer der hervorragenden Gegenwartsdramatiker Europas. Seine Trilogie „Racing Demon“, „Murmuring Judges“ und „The Absence of War“ wurde 1993 am National Theatre in London, der führenden Bühne der englischsprechenden Welt, uraufgeführt – wie die meisten seiner Stücke; so auch sein   jüngstes „I’m not Running“ im Oktober letzten Jahres.

David Hare – Foto: Daniel Farhi

In Deutschland missachten großmächtige Intendanten Hare, seine Stücke werden entweder an der Peripherie gespielt oder gar nicht. „Die Wahl“, so der deutsche Titel, kam in Bremen heraus. Und auch dort nicht an den städtischen Bühnen, sondern bei der bremer shakespeare company. Diese Schlafmützigkeit  überbezahlter Dramaturgen an namhaften deutschsprachigen Bühnen erwies sich als Glücksfall.

Statt einen jener profilierten, geistvollen, jedem nur denkbaren Dramatiker weit überlegenen Regisseure, die auch noch Shakespeares Œuvre  mit Links bis zur Unkenntlichkeit „bearbeiten“, inszenierte Oliver Stein auf der kleinen Bühne der shakespeare company. Stein hat das Stück sorgfältig gelesen, analysiert, und will seinen Schauspielern und dem Publikum wie seinem Autor redlich dienen – ich muss so zurückhaltend formulieren, weil ich Pech hatte. Ich wollte mir die zweite Vorstellung anschauen, aber eine Schauspielerin erkrankte und der Rest des Ensembles zeigt nur einige wenige Szenen. Aber die Lektüre erweist:  Die Geschichte ist klar und spannend, gegenwartsnah und kritisch, hochdramatisch und -politisch.

Protagonistin ist Pauline Gibson, eine junge Ärztin. Sie arbeitet in einem kleinen Krankenhaus. Als es wegrationalisiert werden soll, beginnt sie politisch zu kämpfen. Ihr Antagonist, Jack Gould (!), ist eine alte Flamme, der sich politisch engagiert und dessen Ehrgeiz auf den Parteivorsitz zielt. Er vertritt einen neoliberalen Standpunkt, der selbst bei Labour auch heute noch (lange nach Tony Blair) einflussreiche Verteidiger hat. David Hare spitzt zu, der Streit zwischen Pauline, der Ärztin, und Jack Gould, dem Berufspolitiker, geht um die zentrale, entscheidende Frage, wer oder was im Mittelpunkt stehen soll: Geld oder Menschen. – Die Ärztin setzt sich durch, das unwirtschaftliche Krankenhaus zu erhalten, „wo die Menschen es brauchen und haben wollen.“ Pauline gewinnt enorm an Statur, Profil und Popularität.

Die anfangs schon mitreißende Spannung erhöht David Hare stetig bis zum Ende des Zweiakters, wenn es um den Parteivorsitz geht: Der Berufspolitiker befürchtet eine Niederlage, sollte seine alte Freundin zur Konkurrentin werden und gegen ihn kandidieren.

Probenforo M. Menke

Starke Szenen, lebensvolle Charaktere, erotische Ausflüge ins verblüffend Saftige und ebenso subtiler wie boshaft-satirischer, anspielungsreicher britischer Humor. Dazu ein bis zum Funkeln geschliffener Dialog,  dessen kristallene Reinheit Evelyn und Rainer Iwersen ohne Verlust ins Deutsche übertragen. (R.I. ist einer der Gründungsväter der bremer shakespeare company.)

David Hare hat schon als junger Dramatiker sozialistische Prinzipien beherzigt, er vermeidet ganz bewusst die Rollenaufteilung in Stars und Chargen – alle bekommen ihre Chance. Hoffentlich arbeitet Oliver Stein   in seiner Erstaufführungsinszenierung auch die verborgene Dramaturgie von Hares Meisterwerk heraus: das Publikum spielt mit. Wir Zuschauer sind gewissermaßen der Parteitag, der darüber entscheidet, wer Vorsitzende/r wird, der VerräterBonze aus der „Labour-Aristokratie“ oder die engagierte Ärztin.  

David Hare hat in seinem langen, ruhmvollen Dramatikerleben (er hat auch Drehbücher zu selbst bei uns bekannten Filmen geschrieben, z. B. zu „Der Vorleser“ und zu  „Nurejew – The White Crow“; Königin Elisabeth II. hat ihn, seiner Verdienste um das britische Drama wegen, zum Ritter geschlagen) viele Frauenrollen geschaffen, die jungen Schauspielerinnen Sprungbretter boten für ihre Bühnenlaufbahn. Mit diesen Rollen knüpft Hare an George Bernard Shaw an („Saint Joan“), sie verkörpern den geschichtlichen Fortschritt. Pauline gehört dazu.  

Warum ist das Stück nicht in Berlin oder Wien an einer großen Bühne herausgekommen? Ignoranz? Faulheit, Schläfrigkeit, Schludrigkeit? Voreingenommenheit? Egal – sogar gut. So bekam nicht ein profilierungssüchtiger Regisseur die Erstaufführung in die Klauen, der den Text eifersüchtig zerstört hätte, um das Augenmerk statt auf den Autor, dessen Stück und Anliegen, auf sich zu lenken.

Die Aufführung in Bremen sollten Sie sich unbedingt anschauen: Wenn alle Schauspielerinnen und Schauspieler wieder gesund sind.

                                                                                   Ulrich Fischer

Nächste Aufführung am Sa. 30.11., Fr 20.12., Fr 27.12. jeweils um 19.30 Uhr – Spieldauer: 2 Stunden 40 Min.   

Kurz und bündig: Ein britisches Meisterwerk unserer Gegenwart – empfehlenswert.