René Pollesch

René Pollesch wurde am 29. Oktober 1962 in Dorheim/Friedberg (Hessen) geboren, sein Vater war Maschinenschlosser, seine Mutter Hausfrau. Er studierte, „kino- und popmusiksozialisiert“ (Pollesch), 1983 bis 89 Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen bei Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann; zu seinen Dozenten gehörten Heiner Müller und George Tabori. Auf der Probebühne des Instituts inszenierte er bereits erste selbst geschriebene Stücke. Im Anschluss an das Studium erarbeitete er mit einer eigenen Gruppe Inszenierungen in Frankenthal. Erste Aufträge erhielt er vom Theater Am Turm  (TAT) in Frankfurt/Main und erarbeitete auf der Probebühne des TAT eigene Stücke (1992 – 94).

Nebenher bearbeitete und übersetzte Pollesch Bühnentexte. 1996 erhielt er ein Arbeitsstipendium am Royal Court Theatre in London mit Seminaren bei Harold Pinter und Caryl Churchill. 1997 war er Stipendiat der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. 1998 strahlte das ZDF sein von ihm inszeniertes Fernsehspiel „Ich schneide schneller (soap)“ aus. Über die Zeit zwischen 1994 und 1998 sagte Pollesch in einem Interview: „Ich war arbeitslos, schrieb weiter, konnte aber nirgends inszenieren.“ (René Pollesch: www-slums. Reinbek 2003, S. 346.)

Es folgten Arbeiten in Berlin, an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, am Berliner Ensemble und am Podewil, wo er eine Zusammenarbeit mit dem Radio begann, für das er   Stücke als Hörspiele bearbeitete. Er wurde von 1999 bis 2000 Hausautor am Luzerner Theater, schrieb und inszenierte für das Staatstheater Stuttgart. 2000 engagierte ihn das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg als Hausautor, wo er mit seinem Ensemble die 10-teilige Theaterserie „world wide web-slums“ entwickelte – spätestens hier gelang Pollesch der Durchbruch.

Für die   „www-slums“ wurde Pollesch 2001 mit dem   Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet. Von  2001 bis 2007 leitete Pollesch den Prater, eine Nebenspielstätte der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und wurde als Gastprofessor an die Goethe-Universität in Frankfurt (2002), an die Universität Gießen (2002/03) und an das Max-Reinhardt-Seminar in Wien (2004) berufen. Er kann als arrivierter Theaterrevolutionär gelten, arbeitet an namhaften deutschsprachigen wie ausländischen Bühnen und für Festivals mit weltweiter Ausstrahlung; Pollesch ist ungewöhnlich produktiv. 

Preise: Mülheimer Dramatikerpreis für „world wide web-slums“ (2001); Mülheimer Dramatikerpreis für „Cappuccetto Rosso“ (2006); Nestroy-Theaterpreis für das beste Stück („Das purpurne Muttermal“); Publikumspreis des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs für „Fantasma“ (2009); Else-Lasker-Schüler Dramatikerpreis für das dramatische Gesamtwerk (2012).
 

René Pollesch ist ein Ausnahmedramatiker, sein Ansatz revolutionär. Dramatiker pflegen in der bürgerlichen Gesellschaft Stücke zu schreiben, für deren Aufführung Tantiemen zu verlangen und von diesem Geld zu leben. Pollesch inszeniert in der Regel seine Stücke selbst – nur in seltensten Ausnahmefällen gestattet er einem anderen Regisseur, eines seiner Schauspiele zu inszenieren: „Gibt es den Text als Endprodukt, steckt darin auch die Probenarbeit. Das ist von niemandem mehr einholbar.“ (a.a.O., S. 347), begründet er seine Entscheidung. Wichtiger als der Profit ist Pollesch ganz offenbar der Gehalt.

„Ich will auf keinen Fall das Bild des individuellen Textproduzenten vermitteln, der am Schreibtisch geniale Texte produziert. Für mich ist die soziale Praxis im Theater wichtig – wie wir miteinander umgehen und was das fürs Schreiben bedeutet.“ (a.a.O., S. 346), erläutert Pollesch. Tatsächlich geht er nicht mit einem fertigen Text in die Probe, sondern mit einigen Ideen, Fremdtexten, Hinweisen auf Filme und entwickelt zusammen mit den Schauspielern und allen anderen am Produktionsprozess Beteiligten Dialoge, Monologe, Fragmente (vgl. z.B.  Polleschs  Interview im „Spiegel“  vom 21. 2. 2005, S. 155 f.). Dabei heben sich die im Theater üblichen Hierarchien zwischen Dramatiker, Regisseur und Schauspielern auf, jede Idee wird auf ihren Gehalt geprüft, nicht von wem sie kommt. Wenn das Stück zur Premiere noch nicht fertig ist, macht das nichts. Gerade der Fragmentcharakter weist auf die Künstlichkeit des Produkts und seine Erzeugung. Die Souffleuse kann ruhig sichtbar dazwischen fahren und die Darsteller spielen nicht, was ihnen fix und fertig vorgesetzt wird, sondern etwas, an dem sie mitgearbeitet haben. Pollesch setzt Ideen nachts am Schreibtisch um und bringt neue Vorschläge am nächsten Morgen in die  Probe ein, er bezeichnet sich als „Dienstleister“ seiner Schauspieler – im geglückten Fall verwandeln sich die Proben in einen kollektiven kreativen Prozess. Pollesch lehnt sich, auch expressis verbis, an Brechts Lehrstücke an. Hier lernen die am Produktionsprozess Beteiligten, das Publikum spielt nur eine periphere Rolle.

Wenn die Entfremdung ein zentrales Thema von Polleschs Theater ist, so ist die Aufhebung der Entfremdung im Leben, hier und jetzt, ein Ziel seiner Theaterpraxis. Beides ist unauflöslich miteinander verwoben und nur so ist der Ansatz in seiner Radikalität angemessen zu verstehen und zu würdigen. Die Lektüre seiner Stücke wirkt ohne Vorkenntnisse befremdlich:

Heidi Hoh ist ein Dreipersonenstück. Alle Gestalten sind jung, leben irgendwann in der Zukunft und leiden unter prekären Arbeitsverhältnissen. „DER NEOLIBERALISMUS IST DIE HÖLLE!“, stöhnen sie leidend, schreien sie anklagend. (Bei VERSALIEN soll stets forciert gesprochen, gebrüllt werden. Sophie Rois war nach der Uraufführung von „Hallo Hotel …!“ [2004] in Braunschweig heiser und musste die Vorstellung am nächsten Tag absagen.) Heidi ist konditioniert, sie arbeitet als Parkplatzwächterin, mitunter aalt sie sich auch als Werbegirl auf einem neuen Auto, das auf einer Messe feilgeboten wird, strippt oder geht auf den Strich. Von zwei anderen Figuren, Gong Scheinplugova und Bambi Sickafosse – „Subjekte der Globalisierung“ (a.a.O., S. 31) -, werden ihr Bemerkungen über ihre Befindlichkeit zugerufen. Heidi möchte gern in Miami Beach die Sonne am Strand genießen. Da sie dafür Geld braucht, muss sie arbeiten. Diese Arbeit entfremdet sie völlig von sich selbst – sie muss sich sogar Chips einpflanzen lassen, um optimal zu funktionieren. Nach der Arbeit ist keine Zeit mehr für Lebensgenuss; Liebe ist unmöglich, Heidi kann nicht einmal mehr schlafen. Das alles muss ertragen werden, Widerworte sind unerwünscht. Das letzte Wort lautet: „HALTET ENDLICH EUER VERDAMMTES MAUL!“

„Ich bin Heidi Hoh“, erläutert   Pollesch (a.a.O., S. 345). „Ich will auf die Bühne bringen, was mich in meinem Leben beschäftigt … Ich stelle nur Fragen. Ist diese Unsicherheit der treibende Motor der neoliberalen Politik – und dient sie dazu, noch mehr Kontrolle auszuüben? Durch Hartz IV geht das hin bis zur Durchleuchtung der privaten Wohn- und Lebensverhältnisse. Zugleich wird die Verantwortung des Staates auf den Einzelnen abgewälzt, nach dem Motto: Du müsstest dich mehr ins Zeug legen, du bist zu unbegabt; nicht das Sozialsystem hat versagt, sondern du.“ (Im Interview mit dem „Spiegel“ vom 21. 2. 2005, S. 155 f.)

„Ich bin Heidi Hoh“ trägt Züge einer negativen Utopie. Trends der Gegenwart werden in die Zukunft verlängert, vergrößert und vergröbert, um kenntlich gemacht zu werden – und ausgestellt. Polleschs Ton ist nie larmoyant, eher satirisch, er schreibt auf Pointe, dabei wird die Aggressivität des Angriffs auf den Neoliberalismus nie gemildert.

Bei der Inszenierung setzt Pollesch auf armes Theater. Es gibt ein zentrales Requisit auf der Bühne, der TW: „Der TW ist ein Tellerwärmer auf Rollen, der hier als Auto, Wasserwerfer, Bullenauto (mit Blaulicht), Plattenspieler, Stalinorgel, Popcornmaschine, Katapult benutzt wird. … er ist das multifunktionalste Ding auf der Welt und sieht einfach blendend aus. Ohne ihn ist der Text nicht zu machen.“ (a.a.O., S. 32). Polleschs Theater erinnert an Thornton Wilder, der, um ein Auto auf der Bühne anzudeuten, vier Stühle brauchte – ein Antippen der Phantasie genügt. Sie wird zum Vergnügen des Publikums extrem gefordert, die Zuschauer spielen mit und fühlen sich geschmeichelt: Pollesch inszeniert Theater für intelligente Zeitgenossen, deren produktive Vorstellungskraft, stimuliert, mehr wert ist als das teuerste Bühnenbild.

Die „www-slums“ spinnen Fäden weiter, die in „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“ sichtbar wurden – ein Prinzip Polleschs. Wenn Aristoteles es noch als konstitutives Moment für ein Drama ansah, dass eine Fabel einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende hat, so missachtet Pollesch dieses alte poetische Gesetz. Er folgt den Imperativen der Fernsehserie und schreibt an einer unendlichen aus Episoden bestehenden Geschichte. Freilich wird variiert und gesprungen wie im epischen Theater: „Natura facit saltus“. (Brecht).

In den „www-slums“  treten  statt drei fünf Figuren auf; sie tragen andere, wenngleich auch diesmal seltsame Namen: Drahos Kuba, Frank Olyphant, Gong Titelbaum, Ostern Weihnachten und der/die Bladerunner. Ostern Weihnachten lädt am ehesten zum Rätseln ein – ihr Name klingt oxymoronisch, wie der lebende Widerspruch. Im Stücktext werden nicht die Namen der Figuren vor dem Dialogteil, den sie sprechen angegeben, sondern der Vorname der Schauspielerin oder des Schauspielers. Den Eingangstext spricht „Catrin“ – die Schauspielerin Catrin Striebeck, die bei der Uraufführung Gong Titelbaum darstellte. Sie flucht: „Verdammte Scheiße. Ich bin in einer Soap gelandet.“

Im Gegensatz zu vielen Seifenopern im Fernsehen ist „www-slums“ nicht auf folgenlose Unterhaltung und Verklärung der gesellschaftlichen Realität angelegt – diese Serie fürs Theater will im Gegenteil die gesellschaftlichen Widersprüche zuspitzen. Wohl nicht zuletzt deshalb lautet der Titel des Pilotteils „SOAPS SEHN NUR LIVE RICHTIG GUT AUS“. Wie häufig bei Pollesch handelt es sich um eine negative Utopie – die „www-slums“ spielen in einer fernen Zukunft: „Es war einmal“ beginnt Catrin mit der klassischen Eröffnung der Märchenerzählerinnen, „vor langer langer Zeit, da gab es Orte, die waren irgendwie nur Orte der VERELENDUNG. Und die nannte man die world wide web-slums“, um fortzufahren: „Ostern Weihnachten kam vor langer Zeit von irgendwoher in die world wide web-slums, als Erwerbsarbeit das entscheidende Kriterium zur Bewertung der gesellschaftlichen Position war.“ (a.a.O., S. 107 f.)

Wir befinden uns also in unserer Gegenwart, in der die Erwerbsarbeit aufhört, die gesellschaftliche Position zu definieren. Die Figuren leben in ferner Zukunft und werfen eine Blick auf unsere Gegenwart, die für sie Vergangenheit ist.

Im Stück, besser: dem Pilotteil der Serie, wird die Verelendung gezeichnet: die Bewohner der www-slums sind obdachlos geworden, ganz buchstäblich, aber auch im transzendentalen Sinn. Sie leiden wie Heidi Hoh unter prekären Arbeitsverhältnissen, schlimmer, „GEHANDELT WURDE NUR NOCH ELEKTRONISCH!“ (S. 107). Caroline fasst die Widersprüche, die das Leben so unerträglich machen, zusammen: „Die Arbeit ist ein Untoter. (…) Du liegst da, bei deinem Job, und der ist eigentlich tot, und er flüstert dir nur zu, dass du versagt hast auf dem Markt oder dass du dich einfach nur zusammenreißen musst.“ (S. 142 f.) Tatsächlich gibt es keine sinnvolle Arbeit mehr, das wendet sich nicht als Vorwurf gegen die Gesellschaft, sondern gegen den Einzelnen: „Bernd: ‚Alle simulieren Arbeit. Alle simulieren, dass es was zu tun gibt. Und irgendwie ist es wichtig zu behaupten, es gäbe da Arbeit, dann kannst du alle, die keine haben, auf den Müll werfen.‘“ (S. 143), um als Quintessenz festzuhalten: „Du fragst nach dem Sinn deiner Arbeit und du wirst verrückt.“ (S. 149)

Der Pilotteil endet in einer Teufelsaustreibung, einer der wenigen konkreten Szenen. Wie im „Exorzisten“ („The Exorcist“, populärer Horrorfilm, USA 1973, Regie: William Friedkin) beschwört Stefan „Die Kraft Jesu Christi“, aber es nützt nichts, „Caroline spuckt Popkorn aus“, vielleicht ist ihre Software von Viren befallen. Sie stöhnt wie schon Heidi Hoh: „NEOLIBERALISMUS IST DIE HÖLLE!“ (S. 150) und Catrin hat mit ihrer Feststellung recht: „Das ist alles so SURREAL!“ (S. 143)

Es ist unzureichend, nur den Text zur Beschreibung der www-slums heranzuziehen. Die wirklich angemessene Rezeption ist das Anschauen der Aufführung, in diesem Fall, das Beiwohnen, ja, das Mitmachen des Theaterabends. Die Ausstatterinnen Janina Audick und Tabea Braun hatten  einen Raum, vollgestopft mit Requisiten aus Fernsehserien, entworfen, ein Pferdesattel stand zentral im Raum: „Zum weiteren Inventar gehörten ein ausrangierter Autoscooter (der tatsächlich mit leisem Elektrosurren durchs Gelände zu kurven ist), eine Jukebox, ein ausgestopfter Schäferhund, jede Menge auf den Boden gepfefferte Singleplatten und die kreuz und quer herumgeschleuderte Kartonverpackung eines applecomputers…“ (Wolfgang Höbel). Die Rampe, die Scheidelinie zwischen Spiel- und Zuschauerraum, war eingeebnet.  Das Publikum saß auf dem Boden, auf Matratzen oder auf Marokkokissen im Rangfoyer des Deutschen Schauspielhauses auf der gleichen Ebene wie die Spielfläche und wurde  in die Aktion gerissen – der Raum der Entfremdung, den die Spieler beschworen, umfasste auch das Publikum. Es wurde spät abends gespielt, eine Art 3. Programm, Nachtvorstellung, anspruchsvoll, für Theaterliebhaber der strengen Observanz, die Verabredung Avantgarde galt und die Stimmung wurde immer entfesselter („ein einziger Kindergeburtstag“, Höbel), weil zunächst die Schauspieler das Publikum begeisterten, worauf hin die Zuschauerreaktion die Schauspieler befeuerte – ein Prozess, der sich auf steigender Stufenleiter immer weiter bis zum Entzücken steigerte.

Dabei gingen immer mehr zugunsten der ans Verrückte grenzenden Stimmung der Text und sein Sinn verloren, nicht zuletzt, weil die Spieler sich in rasendem Tempo überschrien;  die Sätze rauschten „vorbei wie eine Landschaft, durch die man mit 300 Stundenkilometern hindurchrast, und nur inspirierende Fetzen erreichen das Bewusstsein des Zuhörers.“ (Matthias Heine). Pfundweise lagen Häufchen von Mehl auf der Spielfläche – sie stellten Speed dar und hätten gereicht, das ganze Schauspielhaus auf zehn Jahre zu versorgen. Insofern ist der Text ein wichtiger Bestandteil für die Rezeption, kann man doch nach der Aufführung nachlesen, worum es ging. „Polleschs Theater ist eine einzige Überreaktion.“ (Christine Dössel).

Wobei die Stimmung im Gegensatz zum Thema steht, das eine extreme Entfremdung umreißt. Der Hinweis auf die Form, die Serie, das Fernsehen, grundiert den starken satirischen Aspekt des Texte und stützt den Frohsinn – zur Kritik der neoliberalen Gesellschaft gehören bei Pollesch neben der Produktionssphäre und ihren vor allem für junge Leute prekären Arbeitsverhältnissen immer die Medien. Einmal weil Fernsehserien oft von der notwendigen Konzentration auf die Probleme des Alltags ablenken, andererseits aber, weil Filme, in verkleideter Form, wieder genau auf sie hinweisen, wie es im „Exorzisten“ der Fall ist. Eine vom Neoliberalismus durchherrschte Realität ist die des Teufels – allerdings ist es keine angemessene Therapie, mit Gebeten und dem Exorzismus den Neoliberalismus auszutreiben, der, wie der Teufel, nicht nur die Außenwelt beherrscht, sondern auch das Innere der Bewohner der www-slums, denen die Zuschauer so nahe sitzen, dass es schwer ist, sie von den Darstellern zu unterscheiden.

„Hütten aus Notebooks“, die zweite Folge der Serie, schließt nicht direkt an die erste an; es wird zwar einmal vom „Exorzismus“ gesprochen, aber es gibt keine weitergeführte Handlung. Allerdings bleiben die Figuren gleich, das Thema wird variiert: „Die Markenartikel, Unternehmen und Dienstleistungen übernehmen in Polleschs Welt die Rolle freier Subjekte. Die Menschen hingegen ticken als Objekte nur noch nach den Gesetzen des Marktes und organisieren ihr Leben wie Roboter. Dennoch wird von ihnen verlangt, dass sie wie Subjekte entscheiden. Um diesen Widerspruch auszuhalten, nehmen sie ständig Drogen, unter deren Einfluss sie schließlich auch ihre geheimsten Wünsche äußern.“ (Stefan Grund)

Stärker noch als in der ersten Folge wird die Unterdrückung der Frau zum Thema. Sie werden im Theater wie in den anderen Teilen der Gesellschaft diskriminiert. – Pollesch wirkt der Frauenfeindlichkeit nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch entgegen; er sieht viele, auch Männerrollen für Frauen vor. Welche Möglichkeiten in Netzwerken liegen, spricht Caroline an: „ Kein Netzwerk … wird ein sozialer Aufstand“ (S. 164), was bei den nordafrikanischen Rebellionen 2011/12 anders werden sollte; aber Pollesch sieht die Möglichkeiten des weltweiten Netzes eher systemstabilisierend: „Der Zusammenbruch der Ökonomie wird als florierende FICKSOAP wegsimuliert!“ (S. 178).

Was damit gemeint ist, wird in der dritten Folge noch deutlicher; sie trägt den für Pollesch ungewöhnlich lyrischen Titel: „Bevor ich lodernd in Bargeld aufging …“. Das Bild schließt an die Vorstellung vom Verbrennen an, doch das „Ich“ verbrennt hier nicht in der (reinigenden) Flamme, es ist „Bargeld“, dass das Ich verzehrt.

Die Entfremdung wird in der dritten Folge an  Frank Olyphant exemplifiziert. Er steht in der Hierarchie des weltweiten Netzes oben und verdient Geld. Er besitzt ein großes Haus, hat allerdings kaum Zeit, sich dort aufzuhalten. Geschäfte … Aber nicht nur er leidet unter der Heimatlosigkeit, sondern auch alle, die in seinem Haus wohnen und von ihm angestellt sind. Offenbar hat er dort auch seine Frau oder Freundin, doch da er nie kommt, entschließt sie sich, zu arbeiten – sie wird „Nutte“. Das Fehlen von Liebe führt dazu, dass auch die Sexualität in den Bereich des Webs gelangt und dort in käufliche „Liebe“ transformiert wird – sie geht wie alle anderen emotionalen und humanen Bereiche  auch „lodernd in Bargeld“ auf.

Ins Zentrum der Folge rückt Pollesch die Auffassung, dass das weltweite Netzt nicht etwa ideologiefrei sei, sondern heterosexuelle und bürgerliche Lebensformen unterstütze. Damit ist keine der Figuren einverstanden, Bernd bringt seine Gegenvorstellung auf den  Punkt: „ … ich würde gerne mal einen Hype sehen, wo antibürgerliche Lebensstile gehypt werden. Rumhängen und das Leben genießen ohne Geld oder so was. Leben, das nicht in Freizeit und Arbeit organisiert ist.“ (S. 191). Diesen Wunsch verbindet Bernd mit aggressiven Phantasien: „… die Arbeit ist tot und steht auch nicht wieder auf und es gibt nur noch Produktionsstätten von Reichtum und diese Webadressen werden wir aus Langeweile mit DIGITALEN STALINORGELN BOMBARDIEREN!“ (ebda.)

Am Anfang der vierten Folge steht eine instruktive Zusammenfassung von Catrin, was bisher geschah, es folgt eine Intensivierung und Vertiefung des Problems, dass Berufs- und Liebesleben nicht miteinander in Einklang zu bringen sind.  Da der erfolgreiche Frank nicht bereit ist, seinen Status in Frage zu stellen, muss er dem Beruf die Priorität geben, gleichzeitig klagt er über die Vernachlässigung seiner Gefühle. „Deregulierte Märkte brauchen deregulierte Emotionen“ lautet die Überschrift der 4. Folge – aber diese absurde Behauptung wird im Lauf der Debatte stark in Frage gestellt. Ist es nicht im Gegenteil so, dass deregulierte Märkte regulierte Gefühle brauchen? Die durch die entfesselte Wirtschaft entstehenden Defizite machen die Figuren verrückt – sie beschimpfen sich gegenseitig, Derb- und Grobheiten prägen den Dialog. Von „FICKSAU“ und „MISTFOTZE“ ist, wenn unausgelebte Gefühle zum Ausbruch drängen, häufiger die Rede. „Wutkotzscheißtexte“ (Ulrike Kahle) –  der Unbegriff kennzeichnet treffend die Energiequellen, aus denen sich die Heftigkeit speist. Überhaupt ist erheiternd, die Kritiken von Pollesch-Stücken zu lesen. Selbst die energischsten Gegner fühlen sich von dem Witz Polleschs herausgefordert und erwidern mit eigenen Erfindungen, die allerdings meistens hinter dem Vorbild zurückbleiben – oft kopiert, nie erreicht!

Eine andere Eigenheit des Pollesch-Dialogs sind Imperative. Frauke Meyer-Gosau hat einen besonders aussagekräftigen als Titel für ihren Aufsatz über die „www-slums“ gewählt: „‚ÄNDERE DICH, SITUATION!’“ – So wünschenswert das wäre, die Situation, als solche angesprochen, wird diesem Befehl kaum Folge leisten (können). Die auffällige Diskrepanz zwischen Aussage und Sinn gehört zu den stärksten, am häufigsten genutzten Mitteln Polleschs, das Komische zu erzeugen, das das Absurde grundiert.

In der 5. Folge, „Betten sind Orte erhöhter Wachsamkeit“ stirbt Ostern Weihnachten, aber im Abspann – im Theater! –  wird versprochen, dass sie in der nächsten Folge wiedergeboren wird. Die Frage nach den Möglichkeiten des Widerstands im Netz wird vertieft mit Hinweisen auf Seattle und Prag – aber der Protest ist eben nicht mehr als ein „RAHMENPROGRAMM“ (S. 260),  wie Caroline verzweifelt schreit. Bedeutsam wirkt Catrins Hinweis: „ICH BIN SCHWER BESORGT ÜBER DEN KAPITALISMUS IM NETZ!“ (S. 252).

In den „Betten …“ gibt es Rudimente eines Handlungsfortschritts. Die Figuren fragen sich und ihr Publikum, ob „wir überhaupt noch Menschen sind.“ (S. 265) Ein „Bladerunner“ soll auftauchen, um diese Frage zu entscheiden.  (Pollesch nimmt auf den gleichnamigen Science-Fiction-Film [USA 1982] von Ridley Scott Bezug. Dort sind Bladerunner Polizisten, die als einzige zwischen wirklichen Menschen und Replikanten, die ihnen täuschend ähneln, unterscheiden können. Das Hauptunterscheidungsmerkmal sind Gefühle: Replikanten haben keine Emotionen, nur Menschen.)

Beide Versprechen hält „DAUERND PLATTEN TAUSCHEN“, die 6. Folge, ein. Ostern Weihnachten ersteht wieder auf von den Toten, eine erheiternde Blasphemie, zumal der Ort  eine Disco ist, der die Funktion einer Gebärmutter zugeschrieben wird. Neben der Disco steht als zweites der Popkultur entnommenes Kunstmittel, der Bladerunner (er taucht auch in „Ufos & Interviews“ auf. – „Ein neuer Pollesch ist immer auch ein alter Pollesch…“ [Eberhard Rathgeb]). Der Bladerunner entlarvt, dass die Gestalten gar keine Menschen sind, sondern „MUTANTEN“. Er nennt Ross und Reiter:  Caroline Peters, Catrin Striebeck, Stefan Merki und Bernd Moss. Außerdem enthüllt er, dass sie Schauspieler und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg engagiert sind.

Dieses reizvolle Spiel mit der Frage nach der Identität nutzt Pollesch immer wieder, um die eigene Kunstform zu hinterfragen. Es soll bei der Wahrheitsfindung helfen, zeigen, dass auch Pop nicht nur trivial sein muss, sondern in tieferen Schichten anregende Interpretationsmöglichkeiten ruhen – und dass Schauspieler ein vieldeutiger Beruf ist. Sind Striebeck und ihre Kollegen nun wirkliche Menschen oder auf der Bühne nur Replikanten, weil sie vorgeben, etwas anderes zu sein, als sie wirklich sind? Aber sind nicht Schauspieler wirklich nur dann Schauspieler, wenn sie vorgeben, jemand anders zu sein als sie sind? Eines ist gewiss, wenn Catrin Striebeck auf der Bühne als Catrin Striebeck vom Bladerunner entlarvt wird, ist sie einerseits bestimmt nicht die private Catrin Striebeck, sondern die Schauspielerin, allerdings gibt sie vor, eine ganz andere Rolle zu spielen. Ist sie ein Mensch? Oder als Darstellerin in einem Stück von Pollesch so fremdbestimmt, dass man dem Bladerunner wohl zustimmen kann, wenn er die Aktrice als Replikantin bezeichnet?

Dabei wollen die Schauspieler in ihrer Rolle keine Replikanten sein; das erscheint ihnen schrecklich. Dann wäre die Entfremdung schon so weit fortgeschritten, dass sie ihr Wesentlichstes, ihr Menschsein, verloren hätten. Und da ist Pollesch wieder bei seinem Zentralthema, den www-slums, in denen man nicht menschenwürdig wohnen, sondern nur noch unbehaust vegetieren kann: Schauspieler erscheinen als Opfer einer  menschenfeindlichen Ordnung, die den Beruf allem anderen, vor allem den emotionalen Bedürfnissen, voranstellt, Opfer eines Systems, gegen das sich zwar anschimpfen aber nicht ankämpfen lässt, weil der Gegner gesichtslos ist und sich im Internet, das er durchherrscht,  versteckt: DER KAPITALISMUS.

Dabei ist die geistreiche Anspielung auf die konkreten Verhältnisse im Theater heute deutlich: Schauspieler sind fremdbestimmt. Intendanten weisen ihnen Rollen zu, Regisseure sagen ihnen, wie sie sie zu interpretieren haben. Der Sprung vom Replikanten zum Schauspielermenschen ist der vom Stadt- zum Pollesch-Theater.

„The Fucking goodbye“, erklärt Catrin am Beginn der (vorerst) letzten und siebten Folge „SCHEISSLEBEN SIND MIT AUFWAND VERBUNDEN“. Im Mittelpunkt steht die Entlarvung der Gestalten als Replikanten und Roboter. Der Bladerunner hat sie enttarnt.

Anders als im Film haben sich in den www-slums allerdings Menschen in unmenschliche Wesen verwandelt, weil ihnen die Gefühle abhanden gekommen sind. Die Computerwelt, der Kapitalismus und der Neoliberalismus haben sie ihrer menschlichen Dimension wie ihres Obdachs und ihrer Identität beraubt. Die Serie endet in einem Schreiwettbewerb, in dem sie ihren  Protest artikulieren – und doch  bleibt alles nur Spiel. Stefan hat das letzte Wort: „ … und ich hab gewonnen!“ (S.327).

Gewonnen hatte auch Pollesch; wegen des Publikuminteresses bekam er den Auftrag, drei weitere Folgen zu schreiben und das Ensemble zog aus dem Rangfoyer ins Große Haus auf die Bühne um. Schon an den ersten sieben Folgen lassen sich Hauptprinzipien von Polleschs dramatischen Arbeiten ablesen, ein Muster, dem er weiter folgte und das er veränderte, verfeinerte und erweiterte. Tobi Müller analysierte: „… sein Thema bleibt der Terror des Ökonomischen. Der superhippe Dramatiker und Regisseur arbeitet wie eine Perversion dessen, was er unablässig kritisiert. In einer Endlosschlaufe (sic!) der Verwertung linker Theorie und seiner selbst unterwandert Pollesch den Theaterbetrieb, indem er auf Figuren und Entwicklung pfeift, produziert, produziert, produziert und so den Warencharakter von Kunst vorführt. Das ist, nach zehn gesehenen Stücken, nicht so sehr Kunst, aber radikal künstlich. Auch tragisch. Weil ausgerechnet Pollesch, der dem Geniebegriff des einzigartigen Künstlers flott in die Fresse haut, als großer Künstler gehandelt wird.“ 

Weitere, offenbar unerschöpfliche Quellen der Produktivität sind Zitate von Filmen und Fernsehserien, Pop- und Rockmusik, aber vor allem das Ensemble, das Pollesch in seine Arbeit einbezieht: Nicht nur die Schauspieler, die am Text mitarbeiten und ihre eigene Rolle mit gestalten, auch die Kostüm- und Bühnenbildner, deren Phantasie viel zur Anschaulichmachung der Absurdität der gesellschaftlichen „Ordnung“  in den Aufführungen beiträgt, die Souffleuse nicht zu vergessen, die nicht möglichst unauffällig einhilft, sondern sich zum geschätzten Ensemblemitglied emanzipiert und ebenso sichtbar wie lautstark ins Bühnengeschehen eingreift, um zu unterstreichen, dass Polleschs Texte häufig Monstrositäten sind, die sich kein vernünftiger Mensch merken kann. Ironie, Sarkasmus und Spott als Ausdruck radikaler Kritik umfassen nicht nur die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Medienwelt, sondern auch das eigene Tun und Geschehen – die Selbstkritik ist ein wichtiger Strang, der zur Komik beiträgt und   Heiterkeitsstürme im Publikum zu entfachen vermag.

Das Muster hat sich bewährt. Inhaltlich ist Pollesch in der Lage, mit ihm unterschiedlichste Aspekte der Gesellschaft zu fassen – Wohnen und Stadtentwicklung, das Voranschreiten der elektronischen Datenverarbeitung, die Ausbreitung des Internets, Verdummungstendenzen in den Medien, Neokolonialismus, Okkultismus und Dunkelmännertum, Hierarchien, Macht und Unterwerfung, Kontrolle, Arbeitsverhältnisse, das Geschlechterverhältnis, Identitätsprobleme, Erlebnisstrategien, Eitelkeit von Stars, Idiotie der Propaganda, die dem Darstellungsgewerbe Glanz verleihen soll, das stupide Beharrungsvermögen des Theaters im Affirmativen. Trotz dieser Attacken – oder vielleicht gerade ihretwegen – bemühen sich Intendanten immer wieder um   Pollesch, so dass er an namhaften Bühnen arbeiten kann. 2006 gab Pollesch als Zahl seiner Stücke 150 an; die Frequenz der Uraufführungen hat das Wahrscheinliche weit hinter sich gelassen  – kein Wunder, dass neben gelungenen auch missglückte Produktionen stehen, die nur bereits Gesagtes variieren, wiederholen. Dessen ist sich Pollesch selbst bewusst, mitunter stigmatisiert er eine seiner Produktionen heiter und publikumswirksam als „Raubkopie“.

Pollesch erweiterte aber auch die Möglichkeiten seines Theaters im Lauf der Jahre. Als Volkstheatermann zieht er, wie einst Molière, über Land. Eine seiner erheiterndsten Erfindungen – zusammen mit seinem Bühnenbildner  Bert Neumann – ist das Theaterzelt. Einmal schlug er es sogar mitten in der Höhle des Löwen im Zentrum des arrivierten Theaters auf, in Salzburg auf dem Mozartplatz, während der sommerlichen Festwochen (2005), ein Fünfsternefestival mit weltweiter Ausstrahlung, und präsentierte „Cappuccetto Rosso“, „Rotkäppchen“.

Das Stück hat nichts mit dem arglosen kleinen Mädchen, dem Wolf und der Großmutter zu tun. Wie häufig bei Pollesch treten vier Darsteller auf: diesmal Christine Groß, Caroline Peters, Sophie Rois und Volker Spengler –  sie spielen fast sich selbst, nämlich Theaterleute von heute. Die Aufführung war besonders gut, weil das Ensemble diesmal auf Exaltationen weitgehend verzichtete, hysterische Ausbrüche gedämpft wurden und das Tempo gedrosselt. Dadurch gewann der Text an Verständlichkeit, das Publikum konnte besser folgen, und der Humor – von deftig bis subtil – kam über die Rampe. Es wurde viel gelacht.

In „Cappuccetto Rosso“ wird durch den polemischen Bezug auf das arrivierte Theater rundherum  der Volkstheatercharakter von Polleschs Stücken besonders  deutlich – wie im Vormärz Nestroy das Burgtheater attackiert Pollesch die berühmten Bühnen- und Filmstars unserer Tage. Besonders den „Untergang“, ein damals viel diskutierter Film über die letzten Tage Hitlers in Berlin, zieht das Ensemble gekonnt durch den Kakao. Einige Darsteller wetteifern darum, mehr als andere Faschist zu sein, damit klar ist, wer am besten in der Lage ist, sich in Hitler und seine Umgebung einzufühlen und sie darzustellen. Diese Passagen sind besonders boshaft, weil Pollesch diese Art des Spiels, die Einfühlung, für aufklärungsfeindlich hält und deshalb in die Nähe des Nationalsozialismus rückt. Mitunter erscheint gar glaubhaft, dass diese Schauspieler wirklich, wie sie behaupten, Faschisten sind, was gleichzeitig ein Widerspruch Polleschs zu sich selbst scheint: Denn dann würden ja die Schauspieler sein, was sie spielen. Hier freilich wohl mehr gegen ihren Willen. – Der „Untergang“ war arg tragisch, beschrieb, wie schon der Titel sagt, die Tage vor Hitlers Selbstmord nicht als Anbruch eines hellen neuen Morgens nach langer finstrer Nacht, sondern als „Untergang“, aus der Perspektive des Diktators und seiner vielen guten Freunde.

Sophie Rois spielt eine Diva. Sie tritt meistens nicht auf, sondern nur ihr Abbild ist zu sehen. Die berühmte Schauspielerin wird in ihrer Garderobe von einer Videokamera aufgenommen und ihr Bild, vergrößert,  auf eine Leinwand projiziert, die das Publikum betrachten kann; der alternde Star gibt sich hysterisch angesichts des nahen Auftritts. Sophie Rois macht sich lustig über die Rolle, die Diven gern spielen, nicht nur, kurz bevor sie auftreten.

Sie wird stark beunruhigt, als ihr Regisseur, der sie schlecht behandelt, behauptet, sie habe ihren „Zauber“ verloren. Pollesch spottet über die Theorie der Aura, die Schauspieler umgeben soll. Hier spielt der „Zauber“ ganz einfach die Rolle, die Diva botmäßig zu machen. Der Regisseur behauptet, sie habe diesen Zauber oder nicht, je nachdem, wie er sie führen will. Pollesch wendet sich gegen das Herr-Knecht-Verhältnis von Regisseur und Schauspieler, er zielt mit seiner Arbeit auf Gleichheit.

Angesichts des ganzen Salzburg-Festspiel-Zirkus rundum wirkte „Cappuccetto Rosso“ kritisch, heiter und enger als alle anderen Stücke und Opern des gesamten erlesenen Programms mit der Wirklichkeit verbunden. Dabei zielt Polleschs Hauptattacke auf die Entfernung des Theaters von der Wirklichkeit.

Mit dem „purpurnen Muttermal“ vertiefte Pollesch Einsichten über die Existenz der Schauspieler. Er nahm Motive des Films „All About Eve“ auf – einen Film von Joseph L. Mankiewicz (Regie und Drehbuch, USA 1950), in dem eine junge, ehrgeizige und listige Schauspielerin, Eve,  sich in den Kreis um einen Star einschleicht, um die Ältere zu verraten: Eve missbraucht das Vertrauen ihrer Gönnerin, um selbst ihren ersten wichtigen Karrieresprung zu schaffen. Konkurrenz beherrscht das Verhältnis zwischen Schauspielern, wie in allen anderen Bereichen der Wettbewerbsgesellschaft, es geht um Geld. Da kann Sophie Rois in der Rolle Hans Mosers noch so sehr beteuern, die Kunst sei ein autonomer Bereich – es ist leicht und erheiternd, hinter diesen interessegeleiteten Mythenkonstruktionen die Wahrheit herauszufinden.

„Warum gehen uns Geschichten nahe, die nicht unsere sind.“ stellt „T“. in „Tod eines Praktikanten“ (S. 135) fest (hinter der Frage steht ein Punkt!) – ein Schlüsselsatz. Pollesch plädiert für das Gegenteil und arbeitet an einem Theater, das eben unsere Geschichte/n in den Mittelpunkt rückt. In diesem relativ kurzen Stück werden z.B. die Tagesgagen der Schauspieler genannt, die Preise ihres Kostüms an ihre Kleider geheftet, so dass die Kosten der Produktion von jedem Zuschauer errechnet werden können – Schauspieler sind Arbeitnehmer wie du und ich. Geht die Aura verloren, gehen Illusionen verloren, gehen Illusionen verloren, gewinnt der Realitätssinn – seit Aristophanes eine zentrale ästhetische Strategie des Volkstheaters.

„Liebe ist kälter als das Kapital“ behandelt intensiv das Verhältnis von Leben und Kunst. Pollesch kritisiert das Staats- und Stadttheater, weil es mit der Pflege der Tradition sich um seine wirkliche Aufgabe herumdrücke: um die Auseinandersetzung mit der Realität. In unserer Zeit gehe es nicht an, das Thema Liebe immer wieder zu behandeln, wenn das Verhältnis der Menschen tatsächlich durch das Kapital bestimmt werde. Die Schauspielerinnen leiden besonders darunter, weil sie genötigt werden, eine falsche Verzweiflung darzustellen, sich demütigen und auf der Bühne schlagen zu lassen, während ihre wirkliche Verzweiflung in ihrem Beruf als Problem ausgeblendet werde. Überdies können sie nicht aus ihrer Rolle als Schauspieler heraustreten. Wenn sie von der Bühne (auf die Hinterbühne) abtreten, wartet dort die Kamera auf sie – sie haben nie Ruhe, spielen immer. Diese Verwirrung ist besonders komisch und tiefgründig, weil ja gerade das Spiel die Wirklichkeit des Schauspielers ist – der der Zuschauer beiwohnt.

Das „Tal der fliegenden Messer“ rückt einen Nachtclubbesitzer in den Mittelpunkt, dem das Geld ausgeht. Cosmo ist bereit, ein Verbrechen zu begehen, um die Finanzen aufzubessern. Daneben geht es mehr um Schauspieler, um Wahrheit und Kunst, also eines von Polleschs Zentralthemen. Die Damen sind Stripperinnen – Pollesch meint Schauspielerinnen. Er neigt zur Travestie, nicht nur um der Komik willen, sondern um anzudeuten, in welch prekärer gesellschaftlicher Lage sich Künstler befinden, wie wenig sie geachtet werden – tatsächlich. Ihre finanzielle Abhängigkeit, ihre Kurzverträge – der NV-Solo – stehen in deutlichem Missverhältnis zur Ideologie, die vorgibt, Künstler hoch zu schätzen. Überdies werden Künstler als Vorbilder propagiert, wie Pollesch kritisch anmerkt: „Im Moment wird ja von jedem erwartet, er solle Künstler sein und vierundzwanzig Stunden täglich selbstausbeuterisch an seiner Selbstverwirklichung arbeiten. Da der Markt aber kaum die entsprechende Anzahl von Jobs bereithält, liegen alle mit ihrem Traum vom Künstlertum irgendwann in der Gosse, während die, die es geschafft haben, als Erfolgskonzepte herhalten müssen.“ ( S. 343, www-slums).

Gegen diese Ideologie und ihre massenhafte Verbreitung richtet sich Pollesch, insbesondere auch mit der als Warnung gedachten Travestie. So ist auch die Wirrnis auf der Bühne zu erklären, die bis zur Schäbigkeit herab geminderte Schlichtheit: der Neoliberalismus verdammt die Mehrheit zur Armut –in den www-slums schon im Titel benannt.

Häufig werden Polleschs Stücke von Kritikern als Diskurstheater bezeichnet. Obwohl   Thesen von Philosophen und Soziologen Pollesch inspirieren, ist die Bezeichnung anfechtbar. Zwar gibt es mitunter einen gedrechselten Satz abseits des üblichen, an die Umgangssprache angelehnten Dialogs mit komplexen Begriffen, die der Entfaltung bedürften,  doch damit ist die Theorie nicht dargelegt oder gar diskutiert – vielmehr werden Theorien nicht nur einverständig dargestellt. „Der theoretische Text ist der Anfang einer Assoziation …“ (Pollesch, „Liebe ist kälter als das Kapital“, S. 339). Pollesch präsentiert sie mitunter komisch, sei es, weil er sie für abwegig hält, sei es, weil sie dem kritisierten Befund nicht abhelfen können. Sie sind zu kompliziert um jene zu erreichen, die unter den analysierten Verhältnissen leiden. Polleschs Theater kann dem auch nicht wirklich abhelfen, etwa indem es diese Thesen anschaulich und verständlich machte – bestenfalls ist das im allgemeinsten Sinn der Fall, wenn Entfremdung dargestellt wird. Aber in Polleschs Theater erscheinen Wissenschaft, Philosophie und Theorie mehr als ein Ausdruck für die Entfremdung als ein probates Mittel für deren Aufhebung. So empfiehlt Pollesch beispielsweise am Ende seiner „1000 Dämonen wünschen dir den Tod“ u. a. die Lektüre von Girgio Agambens „Das Offene“ und Kerstin Pinthers „Stadt ohne Eigenschaften“ – am Ende des Stücktexts. Zusätzlich. Agambens Theorien sind zu komplex, als dass sie in einem Stück oder einer Reihe erklärt werden könnten. Auch die Filme, auf die sich Pollesch immer wieder gern in seinen Stücken bezieht, werden nicht ernsthaft, sondern polemisch in kleinsten Ausschnitten einbezogen. Der holde Wahnsinn der Streifen wird entlarvt und die Schauspieler bekommen Gelegenheiten, die Manierismen ihrer berühmten Kollegen parodistisch an den Pranger zu stellen. Polleschs Gestus ist antiautoritär: Lasst Euch nicht beeindrucken, weder von Ruhm noch von aufgeblasener Sprache, die sich bedeutsam gibt! Der Betrachter soll die Erkenntnis des Kindes nachvollziehen, das unbefangen erklärt: „Der Kaiser ist nackt.“

Neue Schwerpunkte setzte Pollesch mit dem Einsatz eines Chores. In „Kill your Darlings!   Streets of Berladelphia“ z. B. – eine Produktion, die das Fernsehen aufzeichnete, und an der sich gut wichtige Aspekte seiner Dramenkunst studieren lassen -, tritt ein Protagonist einem Chor gegenüber: 15 Berliner Turner. Sie zeigen überwiegend im Hintergrund ihre meisterliche Körperbeherrschung. Der Protagonist überlegt, ob sie der Kapitalismus seien, von dessen Struktur er sich bedroht sieht. Das Stück endet mit dem Hinweis des Protagonisten,   dieses Theater leiste mehr für seine Darsteller, für alle an der Produktion Beteiligten, als für das Publikum – hier knüpft Pollesch wie schon früher wieder an die Lehrstücke Brechts an.

Bislang hat sich erwiesen, dass Polleschs Stücke für beide wirksam und attraktiv sind – für Künstler wie für Zuschauer. Prophezeiungen, Polleschs Theater werde sich bald erschöpfen, haben sich nicht bewahrheitet. So lange Pollesch seine Stücke entwickeln und zeigen kann, so lange werden die Unkenrufe seiner Gegner wieder laut werden – und so lang wird sich die Kritik seines Theaters entfalten – Kritik an der Gesellschaft, am Theater und seiner Praxis, an sich selbst. Heiter, frei, reflektiert. Polleschs Konzept erinnert an Friedrich Schlegels Entwurf der Progressiven Universalpoesie – es ist offen für die Zukunft.

Die Wirklichkeit liefert Stoff genug.