Ins Innerste

Tschechows „Ivanov“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

HAMBURG.  Öd, deprimiert und ausweglos – das sind drei Schlüsselbegriffe, um die sich Karin Beiers neue Inszenierung von Anton Tschechows „Ivanov“ dreht, die am letzten Samstag im Deutschen Schauspielhaus Hamburg eine mit langanhaltendem Applaus honorierte Premiere hatte.

Anton Pawlowitsch Tschechow - ein Stern am Dramatikerhimmel

Ööööd ist die Exposition; die ersten beiden Akte beschreiben das Leben in der russischen Provinz in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Jeder blockiert jeden und sogar Ivanov, dessen Schwung allen imponierte, der mit seinen Ideen mitreißen konnte, ist wie gelähmt. All seine Projekte scheitern. Warum? Er weiß es selbst nicht. Der Doktor macht ihm Vorwürfe: Er habe seine Frau nur des Geldes wegen geheiratet. Aber das Kalkül sei nicht aufgegangen. Seine Schwiegereltern haben ihre Tochter verstoßen, weil sie als Jüdin einen Christen geheiratet hat. Aber stimmt, was der Doktor, ein grässlicher Rechthaber, behauptet?

Öd ist aber nicht nur das Landleben, öd sind auch die ersten zwei Akte.  Sie trampeln auf der Stelle, es geht nicht weiter, keine Dynamik, entsetzlich langweilig.

Das ändert sich nach der Pause. Dramatisch. Ivanov forscht in einem langen Monolog nach, was seine Krankheit verursacht, warum diese Depression ihn unfähig werden lässt, aus dem Stillstand herauszukommen.  Devid Striesow spielt Ivanov.

Devid Striesow als Ivanov und Angelika Richter als seine Frau Anna – Foto: Arno Declair

Der Schauspieler hat im Fernsehen die Herzen vieler ZuschauerInnen und hohe Achtung für seine Kunst gewonnen. Auf der Bühne in Hamburg kommt sie noch stärker zur Erscheinung. Stimme, Mimik, Gestik und Körpersprache fügt Striesow stimmig zusammen, um die Verzweiflung über die Unfähigkeit, die Lähmung zu überwinden, zum Ausdruck zu bringen. Vor allem die Körpersprache überzeugt. Die Exaltationen sind extrem expressiv, aber nie überzogen – trotz aller Raserei stets gemeistert. Striesow zeigt, wie das Leid Ivanov auf die Knie zwingt, er beugt sich unter der unsichtbaren Last nach vorn, die Hände faltet er hinter dem Kopf und drückt ihn nach unten, unten, unten…

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Diese Szene ist der Höhepunkt der Aufführung. Wer meint, hier übertreffe Striesow seine Regisseurin, irrt. Denn Karin Beier hat diese Szene meisterlich inszeniert. Nicht etwa, indem sie Striesow angeleitet hat, sondern indem sie die Bühne (für ihn) leer räumt. Stellen Sie sich bitte vor, die riesige Bühne des Großen Hauses ist völlig leer, nur für diesen einen Schauspieler. Sein Auftritt streift jene literarische Sternenwelt, zu der etwa Hamlets Monolog gehört. – Karin Beier hat als junge Frau häufig Shakespeare inszeniert. Damals hatte sie natürlich für sich und ihr Ensemble wenig Geld, die Devise hieß sparen. In dieser Zeit hat sie mutmaßlich gelernt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und jetzt, als Intendantin des Deutschen Schauspielhauses, hat sie Geld im Überfluss. Sie könnte einen Bühnenbildner anheuern, der ein irres Honorar fordert, sie könnte die Werkstätten beschäftigen bis zum Exzess – aber sie verzichtet darauf. Der Zuschauer ist verblüfft, beim Studium des Besetzungszettels zu lesen(?), dass da kein Bühnenbildner verzeichnet ist. So paradox es klingt: Karin Beier erweist ihre Meisterinnenschaft nicht zuletzt durch das Weglassen. Der Zuschauer profitiert – unabgelenkt von irgendwelchem Klimbim kann er/sie sich auf Devid Striesow konzentrieren, der Ivanov spielt und die Innere Realität eines Depressionskranken zur Anschauung bringt.

Weglassen – dazu gehört auch die Musik. Vlatko Kucan tritt auf der Bühne mit Klarinette und Bassklarinette auf – und wenn er leise spielt, ist er ein dezenter Begleiter. Bei lauten Interventionen stört er (Musik wird störend oft empfunden/ dieweil sie mit Geräusch verbunden) und am besten ist es, wenn er sich auf das Pianissimo konzentriert. Weglassen führt bei der Musik so weit, dass die Musik schweigt. Pause. Es ist still. Ganz still. Ganz still? Nein – konzentrieren Sie sich! Da ist doch was, ganz leise. Das Pendel einer Uhr? Das Schlagen eines Herzens, im Sekundentakt? Das Vergehen der Zeit. Hörst Du das Picken der Totenuhr in Deiner Brust?

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Es folgen noch Auftritte, in denen andere Figuren um die Überwindung des Stillstands ringen. Meistens erklären   sich Männer bereit, eine ungeliebte Frau zu heiraten, um an ihr Geld zu kommen – um im letzten Moment doch wieder zurückzuschrecken. Die Frauen möchten um ihrer selbst willen  geliebt werden, aber sie ahnen, was sie anziehend macht – und klammern sich an ihren Geldsack. So kann keine Dynamik entstehen, die den allumfassenden Stillstand auflöst, jenen Stillstand, der die Ödnis begründet und   Depressionen nach sich zieht.

Karin Beier hat zusammen mit ihrer Dramaturgin Rita Thiele aus  verschiedenen Fassungen des Dramas, die Tschechow   hinterlassen hat, eine gut  spielbare Version zusammengefügt, die   im ersten Teil aber wohl hätte etwas gestrafft werden können, um die Geduld des Publikums weniger (unnötig) zu strapazieren.

Rita Thiele schreibt im Programmheft zu „Ivanov“: „Sicherlich sind Tschechows Figuren nicht unsere Zeitgenossen und doch wirken sie wie Pioniere unserer Ängste, unseres persönlichen und gesellschaftlichen Versagens, auch unserer Sehnsüchte und Hoffnungen.“  Das beglaubigt  Karin Beiers Inszenierung mit dem überragenden Ensemble. Kein ganz großer Wurf, aber doch mehr als nur eine sehenswerte Inszenierung.

                                                                                   Ulrich Fischer

Nächste Aufführung am 20. und 24. 1.; 1., 6. und 23. 2. Spieldauer: 3 Stunden.