Tragische Farce

„Das Schloss“ nach Franz Kafka im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

HAMBURG. Romane für die Bühne zu bearbeiten ist zur Zeit groß in Mode. In 95 % der Fälle geht es schief –  aber  Viktor Bodo (* 1978 in Budapest) ist es geglückt. Er nahm sich Franz Kafkas Jahrhundertroman(fragment) „Das Schloss“ vor und begann seine Aufführung, noch bevor sie anfing. Wer das Programmheft zur Hand nahm, konnte schon auf der ersten Innenseite lesen: „Die Zentralorganisation behält sich das Recht auf Änderungen vor.“  Bodo spielt ironisch auf eine mögliche Interpretation des vieldeutigen Textes an – es könnte sein, das das „Schloss“ die Residenz einer Herrschaft ist, die sich in die Verborgenheit zurückzieht; wer will kann  es als Anspielung auf die Herrschaft der Kommunisten (Zentralorganisation = Zentralkomitee)  in Osteuropa lesen.

Aber wie gesagt, es gibt viele mögliche Interpretationen, das macht die Besonderheit des Romans aus – und hier ähnelt er den Absurden, deren  genialer Vorgänger Kafka gewiss war und ist. Viktor Bodo und seine Spießgesellen lehnen sich an die Handlung des Romans an und betonen dessen Willkür und Zusammenhanglosigkeit. Zita Schnábel hat ein kompliziertes Bühnenbild entworfen, einen Turm aus Metall mit vier Etagen, zu dessen Spitze Treppen und Leiterchen führen, ein Sinnbild für Hierarchie.

Foto: Thomas Aurin

Ob dort oben an der Spitze wohl das Schloss liegt? Wie auch immer, der Landvermesser (in Hamburg heißt er „Josef K.“ , wie der Protagonist aus Kafkas „Prozess“) möchte gern hinauf.  Carlo Ljubek spielt einen nicht mehr ganz jungen und dennoch manchmal naiven Mann, von dem man unmöglich sagen kann, ob er wirklich Landvermesser ist oder ein windiger Hochstapler, der sich, um seine Aufstiegschancen zu verbessern,  für einen kompetenten Ingenieur ausgibt.  Fruzsina Nagy hat ihm ein Kostüm entworfen, das eher an einen Landstreicher als einen Landvermesser denken lässt – vielleicht ein Landstreicher wie in Becketts „Warten auf Godot.“ Jedenfalls ein Clown aus einem absurden Theaterstück. Josef trifft auf seinem aufhaltsamen Weg sonderbare Gestalten und erlebt bizarre Abenteuer, kommt aber nie an seinem Ziel an, ja, nicht einmal dem „Schloss“ näher. Kafkas Fragment wird meistens als niederschmetterndes Monument des Pessimismus angesehen, nicht nur dunkel, sondern kohlrabenschwarz.  Viktor Bodo hellt den Text auf.

Ein Höhepunkt ist erreicht, wenn die Groteske (etwa auf halber Strecke) eskaliert, Josef tanzt; ein wilder Hiphop (Choreographie: Valenti Rocamora y Tores), von einem Stroboskop (Lichtzerhacker) ins expressiv Ekstatische getrieben. Überhaupt überschreitet das brillante Ensemble den Realismus immer wieder hin zum Filmischen, zum Comic Strip oder zum Traum. Bewusstseinszustände sind schwer voneinander abzuscheiden. Nur Lina Beckmann macht sich einen Spaß daraus, die Wirtin fast naturalistisch zu porträtieren wie eine Frau aus dem wirklichen Leben: autoritär, anmaßend, drohend und boshaft, weil stark sexuell frustriert. Lina Beckmann gehört zu den besten deutschen Komikerinnen unserer Zeit, hier zeigt sie sich von ihrer kreativsten Seite. Sie trägt einen überlebensgroßen Theaterbusen und macht damit Scherze, dass man sich als Mann fragt, ob man zu Zeiten von „Me too“ darüber lachen darf.

Am Ende gewinnt die Aufführung große Souveränität. Kafka hat seinen Roman nicht vollendet, sei es, dass seine Krankheit ihm die Kraft raubte, sei es, dass er ein synthetisches Fragment anstrebte. Regisseur Bodo überlegt, welche Möglichkeiten es gibt, dem Roman heute ein Ende hinzuzudichten. Er sieht vier Möglichkeiten, die eine Figur zur Diskussion stellt. Danach kommt eine Möglichkeit zur Anschauung, die nahe liegt: Das Schloss, das ist der Traum des subalternen Angestellten vom erfolgreichen Aufstieg. Der Landvermesser  gelangt ganz an die Spitze und wird vom hauptmännischsten Obergedönsrat, der aussieht wie ein Landrat zu Kaiser Franz Josefs Zeiten,  zum Superbüroschrat aller Heerscharen (Minister? Kanzler? Präsident?) ernannt, er erklimmt das Bühnenbild und gelangt ganz nach oben.

Dann kommt eine Auflösung des Traums durch eine Änderung des Bewusstseinszustandes (ein Gazevorhang fährt herab, alles Traumhaft-Bunte wandelt sich zu nüchternem Schwarzweiß) , Viktor Bodos Spiel mit Kafkas großem Romanfragment geht zu Ende: Ein freier Umgang wird dem Publikum nahe gelegt – ein heiteres Ende, ein souveräner, phantasievoller Umgang mit dem Stoff für jede/n. Bodo ist ein Vertreter des Volkstheaters, seine unablässigen Lazzi erinnern an Nestroy: Kafka für alle!

Das Publikum ist begeistert, heftiger Schlussapplaus, der vom Doyen des Ensembles mit starker Geste abgebrochen wird. Er spricht kurz & bündig über die Morde von Hanau und bittet das Publikum, sich zum Gedenken an die Opfer zu erheben. Das erinnert noch einmal an das Grauen, das Kafka mit seinem Fragment beschwört.

Dann ist Schluss. Das Publikum geht auseinander.

                                                                                                     Ulrich Fischer

Nächste Aufführung am 25. 2.; 6., 21. und 29. 3. Spieldauer: 2 Stunden. Kurz & bündig: Ein geistreicher Scherz mit großer Literatur. Theater für alle