Deutschsprachige Erstaufführung von „Sokrates der Überlebende“ in Mülheim
Von Günther Hennecke
Mülheim/Ruhr – Venedigs „Silberner Löwe“ der 46. Theaterbiennale schmückt sie seit zwei Jahren. 2016 triumphierten sie mit „Socrate“ und erhielten den „Premio Rete Critica“ für die „Beste italienische Theaterproduktion des Jahres“. Das Theater-Kollektiv „Anagoor“ macht nun auch auf einer deutschen Bühne von sich reden. Roberto Ciulli hat die Truppe an die Ruhr gelockt, wo Regisseur Simone Derai seine italienische Inszenierung, in einer Koproduktion mit Ciullis Mülheimer „Theater an der Ruhr“, in einer deutschsprachigen Version als Erstaufführung präsentierte. In vielen ebenso emotionalen wie verkünstelten Szenen.
Bildung und Erziehung enden in Mord
Es geht um Werte, um Bildung und Erziehung – und einen all das schließlich zerstörenden mörderischen Amoklauf in „Sokrates der Überlebende“, gestaltet und theatralisiert nach der Romanvorlage „Der Überlebende“ von Antonio Scurati, angereichert um Texte von Platon und Cees Noteboom.
Ein Lehrer scheitert – Abbild der Gesellschaft
Es ist der verzweifelte, schließlich scheiternde Versuch eines Lehrers, des mehr und mehr in die Rolle eines Sokrates schlüpfenden Andrea Marescalchi (mitreißend gespielt und gesprochen von Bernhard Glose), der seinen Schülerinnen und Schülern Gefühle und Empfindungen für unveräußerliche Bildungsstandards nahe zu bringen versucht. Ein am Ideal selbst längst Verzweifelter, der zugibt, „keine Hoffnung in die Zukunft“ zu haben, „aber dazu verpflichtet“ sei, „sie zu predigen“.
Weg durch die Gemetzel des 20. Jahrhunderts
Mit dem Rücken steht er zu uns, beschwört acht Schüler, die bewegungslos und mit gelangweilten Gesichtern vereinzelt hinter ihren Schultischen hocken. Mit einer rasanten Tour d‘Horizont durch die Gemetzel und Massenmorde der letzten 100 Jahre beginnt der Abend. Ein Philosophie- und Geschichts- Lehrer steht in der ungeheuren Verantwortung, all das zu erklären. Den Zerfall der Werte, den Verfall von Bildung und Erziehung. Doch er muss unterrichten – und weiß früh, dass er scheitern wird. Ein Lehrer, der für alle steht, die Verantwortung tragen – und sie nicht tragen können.
Kleists Liebe und Tod in einer Stunde
So einfach wie faszinierend sind die Beschwörungsformeln des Lehrers, der die Romantik, wenig später dann Kleists Liebe und Selbstmord mit Henriette Vogel in einer Unterrichtsstunde nachvollziehbar und verstehbar darlegen soll. Alles in einen Kanon von Stunden gepresst, der nicht halten kann, was er verspricht.
Es endet in einem Massaker
So endet schließlich alles in einem Massaker, das einer der Schüler, Cacci, unter dem Prüfungskollegium anrichtet. Nur sein Lehrer Marescalchi, der, wenn auch vergeblich, seinen Schülern ferne Ideale, an die er selbst nicht mehr so recht glauben kann, zu vermitteln versuchte, verschont er. Am Ende einer Bildungskatastrophe stehen Mord und Vernichtung.
Sokrates im Abseits – Es war einmal
Da nützen auch, kurz vor seinem Tode, Sokrates‘ Dialoge mit Alkibiades nichts, die, von Vollmasketrägern in ionischen Kleidern in einer viel zu langen Videoeinspielung für Tiefe sorgen sollen. Die alte Welt ging längst verloren. Da helfen keine Appelle, keine Bildung. Die langweilen nur noch. So gehört eine der über spannende Minuten hinweg völlig wortlose Szene zu den ausdrucksstärksten: Wenn die acht Schülerinnen und Schüler in Zeitlupe aus ihren Sitzen unter die Tische rutschen – und bewegungslos liegen bleiben.
Theater an der Ruhr, Mülheim; www.theater-an-der-Ruhr.de
——— —————————————————–
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“
Nach dem Roman “Il Sopravvissuto“ von Antonio Scurati und Texten
von Platon und Cees Noteboom
Internationale Koproduktion von Theater an der Ruhr Mülheim und
ANAGOOR, Italien
Deutschsprachige Erstaufführung: 16. Januar 2020
Besuchte Aufführung: 4. März 2020
Regie: Simone Derai
Maske: Silvia Bragagnolo und Simone Derai
Kostüme: Katharina Lautsch und Simone Derai
Musik uns Sounddesign: Mauro Martinuz
Lichtdesign: Simone Derai
Mit Bernhard Glose (Lehrer), Irene Blasig, Berkay Cetin, Dara Dyckerhoff, Frank Kleineberg, Lena Kothe, Marius Meschede, Max Siegel und Lara Wolf
Schauspieler im Video: Domenico Santonicula (Sokrates), Piero Ramella (Alkibiades) u.a.
——
Kurz und knapp: Ein Abend, der sehr eindrucksvoll mit packenden Szenen beginnt,
aber stark nachlässt. Vor allem in und mit den Sokrates-Szenen
verliert sich die Inszenierung in Worten. Zumal ein großer Teil des
Publikums nur die Rücken der realen Darsteller „bewundern“
kann, die ihrerseits die Video-Einspielungen verfolgen – und die
Sicht fürs Publikum fast völlig versperren.