(G)Runderneuerung

Der Dramatikerwettbewerb ist in die Jahre gekommen

IM GANZ REALEN RAUM.  Die „stücke“ in Mülheim versammeln jedes Jahr im Frühling an der Ruhr die wichtigsten „stücke“, die in der zu Ende gehenden Spielzeit uraufgeführt worden sind, um den „Dramatiker (oder die Dramatikerin) des Jahres“ zu wählen. Es soll dezidiert um StückeschreiberInnen und ihre Stücke gehen, nicht um Inszenierungen und Regisseure (wie beim Berliner Theatertreffen).

Ein Schwachpunkt des Wettbewerbs war und ist, dass das Publikum die Stücke nicht liest, sondern Inszenierungen sieht. Regisseure stell(t)en sich zwischen AutorIn und Zuschauer – und verfälsch(t)en häufig den Eindruck. Wenn ich an eine Handke-Aufführung – Untertagblues. Ein Stationendrama, 2005 – denke, ärgere ich mich noch heute.

Die Jury hat auch 2020 ihre Arbeit getan, acht Stücke (aus über 110) ausgewählt, aber sie können nicht aufgeführt werden – Corona! Warum das nicht als Chance begreifen?! Jede(r) kann die Stücke lesen und sich ein Urteil bilden, unverfälscht von Regisseursinterpretationen. Der Nachteil, dass man die Bühnentauglichkeit des Stücks schwer einschätzen kann, wird mehr als aufgewogen durch den Vorteil, dass blasse Regisseure mit ihrer unmaßgeblichen Meinung die Stücke nicht kontaminieren.

Aber ist es nicht besser, die „stücke“ radikal rundzuerneuern? „Corona“ lädt geradezu ein, von der Wurzel her neu zu denken.

Die erste Jury, die darüber entscheidet, welche Stücke nach Mülheim zum Wettbewerb eingeladen werden, sichtet (nur) Stücke, die im letzten Jahr uraufgeführt worden sind. Das bedeutet, Stücke können nicht berücksichtigt werden, die die Hürde Theater nicht genommen haben. Dabei ahnt jeder, welche Überlegungen bei  der Entscheidung für (und vor allem gegen!) die Annahme eines neuen Stücks einfließen: Haben wir die Schauspieler? Wie teuer wird das Bühnenbild? Ist Platz im Studio? Überfordern wir unser Publikum?

Die Qualität so manch guten Stücks spielt dann nicht mehr die entscheidende Rolle. These: Die besten Stücke bleiben unaufgeführt. Sie schaffen es nicht einmal mehr bis zum Verlag – dort hat ein müder, unlustiger, lustloser und wenig inspirierter Lektor das Stück zur Seite gelegt, möglicherweise abgelehnt, bevor er es überhaupt gelesen hat, und zum Dramatiker zurückgeschickt. (Beckett: „Warten auf Godot“ – Gequirlte Affenscheiße!)

Lesen Sie doch bitte mal nach, was mit den „Räubern“ geschah, ehe sie endlich uraufgeführt wurden. Ein einflussreicher Schauspieler stellte sich gegen diesen jungen Irren und wollte das deutsche Theater vor Schiller bewahren. Die Borniertheit der Bewahrer dürfte auch heute noch ihr   (Un)Wesen treiben.

Schalten wir es aus. Schaffen wir einen Pool: Jeder, der möchte, bewirbt sich um den Preis. Oder Sie kennen jemand, oder ein Stück, das Sie toll finden.  Es gibt keine Jury mehr – die Jury, die in diesem Jahr eine glückliche Hand hatte, hat in Vorjahren mitunter auch unglücklich agiert – der Fall Peter Handke spricht Bände. John von Düffel! Lutz Hübner. Wie lang hat es gedauert, bis mal Falk Richter eingeladen wurde?! Also, weg mit der ersten Jury, jeder der will, kann Stücke lesen und vorschlagen, seine Stimme abgeben. Die zehn Stücke, die die meisten Stimmen auf sich vereinigen, kommen in die zweite Runde.  Möglich ist das sehr wohl in Zeiten von e-Mail und PDF-Dateien. Nutzen wir die Chancen, die uns die Technik (an)bietet.  Man müsste ein zentrale Sekretariat einrichten – das könnte ja in Mülheim bleiben – denn die Verdienste des Dramatiker-Wettbewerbs (der in diesem Jahr zum 45. Mal über die Bretter gehen sollte) können und sollen nicht in Frage gestellt werden.

Die zweite Runde bekommt eine Jury aus (fünf, sieben) theaterfernen Fachleuten – keine Dramaturgen, Theaterleiter, Regisseure, Schauspieler – keine Verlagsvertreter, sondern Menschen, die was von Theatergeschichte verstehen und Dramaturgie bühnenfern betreiben – vielleicht Akademiker, die sich durch Bücher und Studien ausgewiesen haben. Und Leute aus dem Publikum, die darauf achten, dass Zuschauer verstehen, was auf der Bühne über die Bretter geht. Diese Jury windet dann den Lorbeer.

Das Konzept ist angreifbar. Wer wird nicht alles versuchen, Stimmen zu häufen! Aber die Vorteile überwiegen. Die Netze, die Hürden, die möglicher-, wahrscheinlicherweise Talente und bemerkenswerte Werke behindern, werden (hoffentlich) beseitigt.

Dem Genie eine Chance!

                                                                                              Ulrich Fischer

Link:https://www1.muelheim-ruhr.de/sites/www1.muelheim ruhr.de/files/2020_stuecke_programmheft.pdf