Eine Trouvaille

Frank Castorf inszeniert „Der Geheimagent“ von Joseph Conrad

Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg plante, Anfang Mai eine Uraufführung herauszubringen, Frank Castorf s/wollte inszenieren – aber dann kam Corona. Castorf hatte vor, einen Roman zu adaptieren: „Der Geheimagent“ spielt in London Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht Adolf Verloc; jahrelang hat er als Doppelagent seine Groschen verdient: Er arbeitet der Polizei Londons als Spitzel zu und gleichzeitig einer auswärtigen Macht, vielleicht Russland. Dort kommt ein neuer Attaché in die Botschaft, der Druck macht. Ihm gefällt die liberale Haltung Englands nicht, die Regierung soll repressiver werden; deshalb wird Verloc angewiesen, seine „Freunde“,  die Anarchisten (die er tatsächlich ausspäht), dazu bringen, einen Anschlag zu verüben – dann dürften die Briten schon schärfer werden.

Adolf Verloc führt als Tarnung ein kleines Geschäft; seine Frau hat einen behinderten Bruder, er ist geistig zurückgeblieben. Verloc will als Agent Provocateur in Greenwich, nahe der Sternwarte, eine Bombe zünden, nimmt seinen zurückgebliebenen Schwager mit – und der ist völlig überfordert. Er zündet versehentlich die Bombe zu früh, sie zerfetzt ihn.

Das kann  seine Frau, die ihren Bruder geliebt hat, Verloc nicht verzeihen; sie meuchelt den Gatten. Sie will mit einem Mitverschworenen ihres Mannes, in den sie sich verliebt hat, fliehen, um der Polizei zu entgehen. Aber der Geliebte betrügt sie, stiehlt ihr ihre wenigen Ersparnisse. Die Betrogene nimmt sich, verzweifelt das Leben.

*

Das klingt wie ein Kolportageroman – tatsächlich aber ist die komprimierte, unterhaltsame Geschichte ein Werk von Joseph Conrad.

Joseph Conrad

„Der Geheimagent“ (1907) wird in der Lietartur-geschichtehoch gehängt; A.J. Guerard vertrat die Auffassung,  „Der Geheimagent“ begründe die Gattung des „seriösen psychologisch-politischen Kriminalromans“. Niemand geringeres als Thomas Mann hat ein ausführliches Vorwort geschrieben, Conrad in einem Atemzug mit Adalbert von Chamisso (Galsworthy gar mit Tolstoi) genannt – und eine höchst anerkennende Quintessenz gezogen: Conrad sei es gelungen, „einen melodramatischen Stoff durchgehend ironisch zu behandeln“. – Tatsächlich: die Anarchisten erweisen sich als Spießbürger, streben nach nur einem: Besitz – während die Staatsleute und Polizisten Anschläge ausbrüten, anzetteln und durchführen lassen. Und wir Leser (Zuschauerinnen) lachen darüber: Die Anarchisten, das sind wir selbst!

Die Figuren sind sehenswert, merkwürdig, nicht nur Verloc, auch sein behinderter Schwager, der Attaché und die Polizisten – allerdings ist der Dialog schwach, da dürfte einiges an Arbeit anstehen. – Schade, dass aus der Inszenierung im Mai nichts geworden ist; aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben – Premiere soll in der übernächsten Spielzeit sein. Sehr erfreulich. Es ist, wie so oft bei Frank Castorf: Schon die  Auswahl des Stoffes verspricht einen großen Wurf. Und außerdem ist Castorf ein notorischer Dekonstrukteur, was von dem Roman in seiner Inszenierung übrig bleibt, dürfte kaum mehr sein als ein Ausgangspunkt szenischer AUSSCHWEIFUNGEN.

Aber selbst, wenn die Bühnenadaption misslänge: Theaterfreunde verdanken dem Meister und dem Deutschen Schauspielhaus schon jetzt einen originellen Lesetipp für den Sommer, Corona-Isolationsschmerz wird so gemildert und gemindert – auf hohem Niveau.

Joseph Conrad: Der Geheimagent. Eine einfache Geschichte. Ü.: E.W. Freißler (Ich hab es als e-Book runtergeladen, kostet nicht mal 1 €.)

                                                                                     Ulrich Fischer