Mösenaufstand in Ulm

 

John von Düffel bearbeitet Euripides‘ „Bakchen“

 

ULM. John von Düffel ist einer der produktivsten Autoren unserer Gegenwart. Neben Romanen und Essays umfasst sein Œuvre über 40 Dramen, fast alle bereits uraufgeführt. Sein meistgespieltes Stück ist eine Bühnenadaption von Thomas Manns „Buddenbrooks“. Einen Teil seiner Theaterarbeit widmet Düffel antiken Dramen – dazu gehören auch Euripides‘ „Bakchen“. Der neue Titel verspricht viel: „Die Bakchen (Pussy Riot)“ – nach Euripides – Bearbeitung John von Düffel“. – Was hat der uralte griechische Mythos mit der russischen Protestgruppe unserer Tage zu tun?

 

 

Die Uraufführung der „Backchen“ im Großen Haus vom Theater Ulm beginnt mit einer lyrischen Szene. Während ein junges Mädchen vom Bühnenhintergrund langsam zur Rampe schlendert, wird ein elegisches Lied eingespielt, „Sea Song“ – „Seelied“ von Robert Ellidge. Auf dieses Traumbild eines erfüllten, sinnenfreudigen Lebens folgt ein harter Bruch: Zwei Männer in engen, versifften Zimmern, einer sitzt vor einem großen Bildschirm. Ein Video läuft, Polzisten verprügeln brutal Demonstranten. Der Überwacher ist Pentheus, der Herrscher von Theben. Die Handlung der „Bakchen“ setzt ein.

 

Die Handlung bleibt

 

Euripides stellt in seiner Tragödie Vernunft und Gefühl gegenüber, Nüchternheit und Rausch. Pentheus erfährt, dass ein neuer Gott in seine Stadt kommen will, Dionysos. Das will Pentheus auf jeden Fall verhindern, denn Dionysos stellt Pentheus‘ Herrschaft der Vernunft in Frage – er ist der Gott des Rausches.

 

Diesen Konflikt übernimmt John von Düffel, ebenso wie die Hauptlinie der Handlung. Dionysos nimmt Kontakt mit den Frauen Thebens auf, sie verlassen die Stadt und feiern auf Wiesen und im Wald – Dionysos lässt Wein im Übermaß fließen. Zunächst will Pentheus diese Ausschweifungen unterbinden, doch dann wird ihm seine Neugier zum Verhängnis. Er tappt in eine Falle, die Dionysos ihm stellt. Pentheus will, als Frau verkleidet, aus einem Versteck heraus die Thebanerinnen bei ihrem Fest belauschen – doch er wird entdeckt. Die Frauen verblendet der Rausch und Agaue, Pentheus‘ Mutter, meint, sie kämpfe gegen einen Löwen. Tatsächlich zerreißt sie Pentheus. Wenn Dionys‘ ihr die Augen öffnet, erkennt sie entsetzt, ihren eigenen Sohn zerfleischt zu haben.

 

Karg und konzentriert

 

Düffel konzentriert in seiner Bearbeitung die Tragödie. Kein Wort zu viel, kaum Chor, nur selten Reflexionen, fast pure Handlung. Die Strahlkraft von Düffels Bearbeitung beruht auf der Klarheit seiner Analyse. Anders als viele Regisseure unserer Gegenwart, die, wenig überzeugend, behaupten, es gebe keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, untersucht Düffel diese Differenz.

 

Andreas von Studnitz, Ulms Intendant, inszeniert – er misstraut der kargen Form des Textes, peppt die Uraufführung auf. Stärker noch als die akustischen sind die optischen Effekte: Videos, überlebensgroß. Sogar Ulms Ballett tritt auf. Trotz der ablenkenden Opulenz bleibt aber die   provozierende These des Textes im Zentrum: Der Impuls von „Pussy Riot“ ist der Impuls von Dionysos wie der Frauen von Theben. Die Auflehnung gegen Unterdrückung & Überwachung hat die Jahrtausende überdauert. Obwohl die russischen Provokateurinnen auf der Bühne nie zu hören oder zu sehen sind, erscheinen sie allein schon wegen der Erwähnung im Titel gegenwärtig. „Pussy Riot“ – der Name selbst ist eine Provokation. „Pussy“ ist im Amerikanischen ein pejorativer Begriff für das weibliche Genital, „Pussy Riot“ könnte etwa mit „Mösenaufstand“ übersetzt werden. John von Düffel adelt „Pussy Riot“, er macht sie zu Enkelinnen der weltberühmten, uralten „Bakchen“.

 

Eine starke Schauspielerinnenleistung

 

Das Ensemble stellte sich den Schwierigkeiten des von äußerster Lakonie geprägten Dialogs. Die komischen Szenen missraten, aber das wird mehr als ausgeglichen durch eine überzeugende Regieidee: Dionysos wird von einer Frau gespielt: „Die Verblendung der Macht /unterliegt der Macht der Verblendung. /Niemand entkommt seiner Strafe./ Die Rache lauert im Verborgenen.“

 

Sidonie von Krosigk ist eine blendende Bühnenerscheinung, sie überführt ihre erotische Ausstrahlung in die unwiderstehliche Verführungskraft von Dionysos. Eine herausragende Schauspielerinnenleistung, eine erstklassige, kristallklare Bearbeitung – schade, dass eine besserwisserische Regie diese Ansätze zu einer bemerkenswerten Uraufführung beeinträchtigte.

 

Ulrich Fischer

 

Aufführungen am 18. und 22. April; 6., 8., 16. und 29. Mai

Kartentelefon 0731 161 4444 – Internet: www.theater.ulm.de