Unsere liebe, gute alte Klassengesellschaft

Christoph Nußbaumeders erster Roman „Die Unverhofften“ 

Christoph Nußbaumeder © Suhrkamp Verlag.

„Wie die meisten anderen Menschen seiner Klasse auch hatte er den Verlockungen von Wohlstand und Konsum nachgegeben, um sich erfolgreich zu betäuben. Das machte ihn im Grunde seines Herzens zu einem unerfüllten Menschen.“ So beschreibt Christoph Nußbaumeder (*1978 in Eggenfelden, Landkreis Rottal-Inn) seinen Protagonisten Georg in seinen „Unverhofften“ – Nußbaumeders erstem Roman (S. 627). Er hat sich zuvor als Dramatiker einen Namen gemacht, seine Stücke spielen in der Arbeitswelt – ein (viel zu) wenig beackertes Feld in der (west)deutschen Literatur.

Dieses Sujet macht den besonderen Reiz des Romans aus – Nußbaumeder beschreibt Deutschland im 20. Jahrhundert als Klassengesellschaft. Georg ist außerordentlich tüchtig, schon als junger Mann erweist er sich als durchsetzungsstark und wird zum Leiter eines Sägewerks. Seine Mutter hat dem reichen Mann am Ort weisgemacht, Georg sei das Werk seiner Lenden – deshalb unterstützt er den Bankert. Ein Glück für den Start des Erfolgsmenschen Georg, der es in der prosperierenden Bundesrepublik zum Milliardär bringen wird – erst Sägewerk, dann Baulöwe, schließlich Immobilienmagnat.

Das dominante Unglück im Roman hängt mit dem Irrtum des reichen Mannes eng zusammen – er meint, Georg sei mit seiner Tochter verwandt. Als die beiden sich verlieben – mit die schönsten Passagen des Romans – greift der (vermeintliche) Vater ein: Inzest!  Den Irrtum klärt die Mutter erst lange nach der Trennung der Liebenden auf, viel zu spät.

Eng mit der Geschichte des Aufstiegs verflicht Nußbaumeder die Versuche von Georg und Gerlinde, wieder zusammenzukommen. Während Georg immer reicher und einflussreicher wird, sinkt Gerlinde immer weiter hinab. Zum Schluss wohnt sie in einer bescheidenen Wohnung, deren Miete sie nicht mehr bezahlen kann. Das Elend frisst ihr das Herz ab, sie stirbt am Mangel – die Wohnbaugesellschaft, die ihr mit der Räumungsklage droht, gehört Georg. Der sitzt in seinem Palast viel zu weit weg von den Drangsalen der Armen, um zu  wissen, dass seine Geliebte an seinem steinernen Herzen zu Grunde geht. – Als Georg das Verhängnis bei Gerlindes Begräbnis erkennt,  kehrt er sich, erschüttert,  vom beinharten Kapitalismus ab, aber die Wende gelingt nur halb; Georg stirbt zu früh.

Im Roman ist viel Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts aufgehoben, Bezüge zu Politikern und Ereignissen – z.B. der Skandal um die einst gewerkschaftseigene „Neue Heimat“ – verleihen dem Roman Glaubwürdigkeit, allerdings bleibt die nationalsozialistische Epoche unterbelichtet. Nußbaumeder schwankt zwischen Anklage und Versöhnlichkeit. Aber das Muster seiner Analyse, die Klassengesellschaft, zeigt auf, welche Aufgaben er als unerledigt erachtet.

Die erzählerischen Stärken des Romans liegen in der Beschreibung von Träumen, von Arbeitsabläufen, der Analyse der die Reichen begünstigenden Steuerpolitik, einer Beerdigung eines Großkopfeten in seiner dörflichen bayerischen Heimat, nahe der Grenze zur Tschechoslowakei – und einer proletarischen Hochzeit. Der Gegensatz der Klassen wird höchst anschaulich, geradezu realreal. Aber Nußbaumeder schleppt mit sich einen offensichtlichen Mangel, den auch schon seine Stücke aufweisen. Er schreibt klobig, manchmal schwerfällig, als schriebe er statt mit dem Computer mit einer Axt; manchmal skizziert er nur, was er noch hätte ausfüllen sollen – der Roman wirkt unfertig. Ein einfühlsamer Lektor hätte helfen sollenkönnen und eingreifen müssen. Spätestens, wenn Nußbaumeder „Wilhelmshafen“ (S.444) statt „Wilhelmshaven“ schreibt. Aber das sind insgesamt Korinthen, mit gutem Willen kann man die Unebenheiten des Stils auch positiv wenden: Menschen aus der Arbeitswelt sprechen nicht geschliffen Deutsch, das  Grobe, Zupackende, Starke findet auch im holprigen Deutsch (s)einen angemessenen Ausdruck.

Die Fülle der Figuren fordert die Leser*innen – Nußbaumeder gibt zwar immer wieder Erinnerungshilfen, aber nicht selten kommt der Leser ins Schwimmen. Indes: die Einwände wiegen leicht gegenüber dem gewichtigen Thema und der herzzerreißenden Liebesgeschichte. Und der Hoffnung Nußbaumeders, dass der Ausgleich zwischen Reich und Arm doch noch gelingen könnte. Keine naive Hoffnung, mehr die eines linken Sozialdemokraten. Dem Kommunismus ist Nußbaumeder abhold.

Christoph Nußbaumeder: Die Unverhofften. Roman.  suhrkamp, Berlin 2020. 672 Seiten, 25 Euro. E-Book (Kindle) 21,99 Euro.