(G)Runderneuerung

Der Dramatikerwettbewerb ist in die Jahre gekommen

IM GANZ REALEN RAUM.  Die „stücke“ in Mülheim versammeln jedes Jahr im Frühling an der Ruhr die wichtigsten „stücke“, die in der zu Ende gehenden Spielzeit uraufgeführt worden sind, um den „Dramatiker (oder die Dramatikerin) des Jahres“ zu wählen. Es soll dezidiert um StückeschreiberInnen und ihre Stücke gehen, nicht um Inszenierungen und Regisseure (wie beim Berliner Theatertreffen).

Stephanie Steinberg, Leiterin der Mülheimer „stücke“ – Foto: Max Büch

Ein Schwachpunkt des Wettbewerbs war und ist, dass das Publikum die Stücke nicht liest, sondern Inszenierungen sieht. Regisseure stell(t)en sich zwischen AutorIn und Zuschauer – und verfälsch(t)en häufig den Eindruck. Wenn ich an eine Handke-Aufführung – Untertagblues. Ein Stationendrama, 2005 – denke, ärgere ich mich noch heute.

Die Jury hat auch 2021 ihre Arbeit getan, sieben Stücke (aus über 87) ausgewählt, aber ob sie in Mülheim aufgeführt werden können? Corona! Warum das nicht als Chance begreifen?! Jede(r) kann die Stücke lesen und sich ein Urteil bilden, unverfälscht von Regisseursinterpretationen. Der Nachteil, dass man die Bühnentauglichkeit des Stücks schwer einschätzen kann, wird mehr als aufgewogen durch den Vorteil, dass blasse Regisseure mit ihrer unmaßgeblichen Meinung gehindert werden, die Stücke zu kontaminieren.

Aber ist es nicht besser, die „stücke“ radikal rundzuerneuern? Die Pandemie lädt geradezu ein, von der Wurzel her neu zu denken.

Die erste Jury, die darüber entscheidet, welche Stücke nach Mülheim zum Wettbewerb eingeladen werden, sichtet (nur) Stücke, die im letzten Jahr uraufgeführt worden sind. Das bedeutet, Stücke können nicht berücksichtigt werden, die die Hürde Theater nicht genommen haben. Dabei ahnt jeder, welche Überlegungen bei  der Entscheidung für (und vor allem gegen!) die Annahme eines neuen Stücks einfließen: Haben wir die Schauspieler? Wie teuer wird das Bühnenbild? Ist Platz im Studio? Überfordern wir unser Publikum?

Die Qualität so manch guten Stücks spielt dann nicht mehr die entscheidende Rolle. These: Die besten Stücke bleiben unaufgeführt. Sie schaffen es nicht einmal mehr bis zum Verlag – dort hat ein müder, lustloser Lektor das Manuskript zur Seite gelegt, möglicherweise abgelehnt, bevor er es überhaupt gelesen hat, und zum Dramatiker zurückgeschickt.  

Lesen Sie doch bitte mal nach, was mit Schillers „Räubern“ geschah, ehe sie endlich uraufgeführt wurden. Ein einflussreicher Schauspieler stellte sich gegen diesen jungen Irren und wollte das deutsche Theater vor Schiller bewahren. Die Borniertheit der Bewahrer ist heute noch lebendiger als Wagemut und Forschergeist.

Schalten wir die behäbigen Bühnen aus. Schaffen wir einen Pool: Jeder, der möchte, bewirbt sich um den Preis. Oder Sie kennen jemand oder ein Stück, das Sie toll finden.  Es gibt keine Jury mehr – die Jury hat in Vorjahren nicht immer glücklich agiert.  Also, weg mit der ersten Jury, jeder der will, kann Stücke lesen und vorschlagen, seine Stimme abgeben. Die zehn Stücke, die die meisten Stimmen auf sich vereinigen, kommen in die zweite Runde.  Möglich ist das sehr wohl in Zeiten von e-Mail und PDF-Dateien. Nutzen wir die Chancen, die uns die Technik (an)bietet.  Man könnte ein zentrale Sekretariat einrichten – das dürfte in Mülheim bleiben – denn die Verdienste des Dramatiker-Wettbewerbs (der in diesem Jahr vom 8. bis 29. Mai zum 46. Mal über die Bretter gehen soll) können und sollen nicht in Frage gestellt werden.

Die zweite Runde bekommt eine Jury aus (fünf, sieben) theaterfernen Fachleuten – keine Dramaturgen, Theaterleiter, Regisseure, Schauspieler – keine Verlagsvertreter, sondern Menschen, die was von Theatergeschichte verstehen und Dramaturgie bühnenfern betreiben – vielleicht Akademiker, die sich durch Bücher und Studien ausgewiesen haben. Und Leute aus dem Publikum, die darauf achten, dass Zuschauer verstehen, was auf der Bühne über die Bretter geht. Diese Jury windet dann den Lorbeer.

Das Konzept ist angreifbar. Wer wird nicht alles versuchen, Stimmen zu häufen! Aber die Vorteile überwiegen. Die Netze, die Hürden, die möglicher-, wahrscheinlicherweise Talente und bemerkenswerte Werke behindern, werden (hoffentlich) beseitigt.

Dem Genie eine Chance!

                                                                                             Ulrich Fischer