Das ganze Leben

Sibylle Berg kommt mit  „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“  zum Dramatiker*innenwettbewerb 2021

MÜLHEIM.  Sibylle Berg zielt gleich mit dem Titel „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ auf das Thema, das in ihrem neuen Stück im Mittelpunkt steht: Der Tod. Sibylle Berg ist Dialektikerin genug um zu wissen, dass, wer vom Tod spricht, nicht vom Leben schweigen kann.

Sibylle Berg – Foto: Katharina Lütscher

Die ersten Augenblicke des Monodrams sind kohlrabenschwarz. Ein dunkler Raum, irgendwo; vielleicht liegt eine alte Frau auf ihrem Sterbebett. Ihre Phantasien kreisen um eine völlige Einsamkeit, alleingelassen erwartet sie ihren Tod. Angst, Verzweiflung, allertiefste Depression regieren die Stunde.

Der Text ist auf ganz eigene Weise gegliedert: keine Akte, keine Szenen, sondern, jeweils fett hervorgehoben: „JETZT“ und „DANN„. Erst nach und nach schält sich heraus, dass „JETZT“ der Augenblick ist, in dem die Frau vorausschaut, eben z.B. auf die Stunde ihres Todes („DANN„); später aber auch zurück in die Kindheit, die Pubertät. Nach und nach entfaltet sich ein Panorama, ein Blick auf das Leben einer Frau, vermutlich hier bei uns in Deutschland, in unserer Epoche. Die Dame mag um die sechzig sein, vielleicht etwas älter. Sie könnte so alt sein wie Sibylle Berg – aber niemand sollte voreilig meinen, die Dramatikerin berichte über sich.

Die Dunkelheit des Beginns erhellt sich nur wenig, wenn die Frau über ihre Enttäuschungen spricht: sie hat nie jene Träume der jungen Frau von einer Revolution verwirklichen können. Enttäuschender – sie hat sich angepasst. Sie hatte sich vorgenommen, nie zu unterschreiben – und hat dennoch unterschrieben. Sie hatte sich vorgenommen, nie dem Betrieb zu dienen, der die schreckliche Wirklichkeit perpetuierte, hat sich „DANN“ aber doch einspannen lassen. Sie hat kassiert und sich ihre Träume, ihr Engagement für ein Linsengericht abkaufen lassen. Sie ist zu jener geworden, vor der sie als Junge immer gewarnt hat – und hat nichts dafür bekommen. Nichts!

Offenbar hat sie eine Tochter und ist ihr ebenso entfremdet wie ihrer Mutter – muss zuschauen, wie ihre Tochter genau die gleichen Fehler, noch naiver als sie, begeht, und vermutlich eben da landet, wo sie gelandet ist: in einem stinknormalen Leben. Alles bleibt wie es ist. Und die Männer? Eine einzige Enttäuschung. Sie sagt ihrem Mann, ihrem Freund, ihrem Gefährten, in ihrer Vorstellung: „Wir laufen nebeneinander her, weil wir uns nach Liebe sehnen und sie mit der Darstellung von Liebe verwechseln…“ (S. 17) Ein Höhepunkt des Monologs, der mitunter kraftlos dahinplätschert. Treffend wird es, treffender noch als bei dem aber doch weithin trefflich treffenden Monolog, wenn die Protagonistin von “ … wir müssen jetzt erwachsen werden …“ (S. 20) redet – und damit meint, was alle Angepassten meinen: Du musst dich nicht nur anpassen, du musst Dich unterwerfen! Das Wort bedeutet, was Dante vom Eingang der Hölle berichtet hat: „Lasst alle Hoffnung fahren!“

Dann hellt sich der Monolog auf: „vielleicht war es gar nicht so schlecht, mein Leben …“ (S. 21) und schließlich überraschend positiv: „Es war doch schön dieses Leben.“ (S. 24)

Insgesamt ist das Stück ein kurzer Monolog, eine Beschränkung auf das Notwendige, und eine Bilanz, die die Defizite nicht verschweigt, sondern rot markiert.

Sibylle Berg fordert ihre Schauspielerin – und gibt ihre alle Chancen zu zeigen, über welche Möglichkeiten sie verfügt; die Regisseurin sollte sich an die Vorgaben halten; und das Publikum wird gefordert – gerade am Anfang – um am Ende, trotz allen Trostes, doch unversöhnt zu bleiben.

Es ist eine Stärke des Stücks, sich auf das Allernotwendigste zu beschränken, eine ästhetische Strategie, die an Samuel Beckett erinnert. Dagegen wirkt Rainald Goetz mit seinem „Reich des Todes“ (dieses Jahr ebenfalls nach Mülheim eingeladen) geschwätzig. Sibylle Berg hat im Wettbewerb bessere Chancen als Goetz

                                                                                     Ulrich Fischer