Schweine – antik und aktuell

Elfriede Jelineks  „Lärm./Blindes Sehen./Blinde sehen!“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt

HAMBURG. Elfriede Jelinek behandelt in ihrem neuen Stück „LÄRM./BLINDES SEHEN./BLINDE SEHEN!“ ihre alten Themen: die Fortdauer der Vergangenheit in unserer Gegenwart; Nazistrukturen in unserem heutigen Denken und Fühlen; den Unwillen, etwas grundsätzlich Neues anzupacken und, rundweg die allesdurchherrschende Dummheit, gegen die, wie schon Schiller wusste, die Götter selbst vergebens kämpfen. Aber den Schwerpunkt legt sie auf die Pandemie – der Höhepunkt ist ein Schweineballett.

Das Schweineballett

Regieanweisung: Die Schweine tanzen jetzt die Krankheit. Sie sagen: „Die Fleischarbeiter haben sich in fremden Ländern angesteckt, und jetzt werden sie uns anstecken, sobald das Virus im Betrieb gelandet ist.“ Unschwer zu erkennen, dass diese Schweine z. B. im Südoldenburgischen zu verorten sind; sie haben edle Ahnen. Homer erzählt, die Gefährten des Odysseus habe Kirke (daher das Wort: bezirzen) in Schweine verwandelt. Jetzt harren sie grunzend der Rückverwandlung.

Karin Beier hat die Uraufführung inszeniert. Unschwer sind die Schweine auf ihrer Bühne als unsere Zeitgenossen zu erkennen – über Jahrtausende ist ihre Geschichte (als Warnung?!) überliefert, geändert hat sich nichts. Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhauses und eine der profilierten  Regisseurinnen unserer Epoche, unterstreicht mit grimmigem Humor und anderthalb Pfund Sarkasmus bildmächtig die Fortdauer der Missstände, wirkte früher aber schon einmal inspirierter.

Es gibt viele Anspielungen – die Attacken konzentrieren sich auf die Rücksichtlosigkeit vieler Zeitgenossen (Ischgl), auf die verblüffende Blödheit vieler Querdenker, aber auch auf hochmögende Philosophen – Heidegger kommt schlecht weg.

Textteppich

Elfriede Jelinek hat wieder einen Textteppich geknüpft. Klassische Dramen haben links den Namen der Figur stehen, z.B. „Luise“, rechts kann man lesen, was Luise sagt. Links, die Angabe der Figur, die spricht,  fehlt bei Jelinek, es gibt auch kein Personenverzeichnis, stattdessen einen Fließtext.  Es ist also Aufgabe der Regisseurin und ihres Ensembles, zu entscheiden, wie viele Figuren auftreten und welche Rollen ihnen zugewiesen werden. In Hamburg sind es acht, die Hauptrolle spielt Ernst Stötzner;

Ernst Stötzner © Matthias Horn, 2021

er verkörpert neben anderen Rollen vor allem Odysseus, ein rücksichtloser Fürst, der seine Männer bedenkenlos der Zauberin preisgibt. Diese Zauberin, Zirze, spielt Eva Mattes, sie tanzt magisch mit Anklängen an türkische Traditionen, lässt Bauch und Hüften verführerisch kreisen und lockt mit Armen und Händen. Die Delikatesse dieser Auftritte fehlt sonst   oft – in Hamburg wird zu viel geschrien.

Das Ensemble ist aber, wie fast immer im Deutschen Schauspielhaus, brillant. Nach der langen coronabedingten Pause wirkt es geradezu spielhungrig und unterstützt, trotz Tonnen Humors, die Grundtendenz des Schauspiels. Es ist eine tragische Farce. Eins der letzten Worte lautet: „Dunkelheit“.

Der Zentrale Widerspruch

Der Zentrale Widerspruch in Jelineks Text wie Beiers Inszenierung steckt im Vorwurf, dass sich nichts ändert. Die Literatur, das Theater haben seit Jahrtausenden (Homer!) den Finger in die Wunde gelegt, gewarnt, gemahnt und  boshafte, ja beleidigende Vergleiche gezogen –   es hat nichts genützt, nichts hat sich geändert! Warum aber dann noch immer und immer wieder Theater machen?

                                                                                  Ulrich Fischer

Nächste Aufführung am 19., 20., 23. und 24. 6.

Spieldauer: ca. 3 Stunden.