Hölle und Paradies

Abdulrazak Gurnahs „Paradise“ – erkenntnisstiftend und bewußtseinsverändernd

Als das Nobelkomitee im letzten Jahr Abdulrazak Gurnah mit dem Literaturpreis auszeichnete, murmelten eurozentristische Beobachter*innen: da wird jemand bedacht, um Diversität vorzutäuschen,   diese Weltgegend – Afrika, Süden, indische Bezüge – wurden bislang stiefmütterlich behandelt. Da spielt Qualität eine untergeordnete Rolle – positiver Rassismus: Werch ein Illtum!

Abdulrazal Gurnah (2009)

Wer ist Abdulrazal Gurnah? Er wurde 1948 in Sansibar geboren, lehrte an verschiedenen Universitäten, zuletzt in Kent englische und postkoloniale Literatur und hat eine erkleckliche Zahl von  Romanen vorgelegt. Schon „Paradise“ beweist: das Nobelkomitee  hat ihn zu Recht ausgezeichnet.

Gurnah erzählt die Geschichte von Yusuf – er wählt die Beziehung zu dem Namensvetter aus dem Alten Testament mit Bedacht. Wie Josef sieht Yusuf nicht nur gut aus, er ist ausgesprochen schön. Deshalb erregt er schon als Junge die Aufmerksamkeit des Herrn, eines reichen und einflussreichen Kaufmanns, der ihn seiner Familie, die bei ihm verschuldet ist, abnimmt. Yusuf wird Sklave, um die Schulden seines Vaters  zu prolongieren. (Die Handlung spielt im letzten Jahrhundert!)

Der Junge ist nicht nur schön, sondern, wie sein Namensvetter, auch klug. Er wächst heran, lernt Kaufmann und wird als junger Mann auf eine abenteuerliche Geschäftsreise ins Innere Afrikas mitgenommen. Die Karawane erregt mit ihren wertvollen Gütern die Gier eines afrikanischen Stammmesfürsten, der die Karawanenmänner gefangen nimmt, misshandelt und dem Herrn seinen Besitz raubt. Deutsche Kolonialtruppen retten den Kaufmann und sein Gefolge, die unter unsäglichen Mühen und Plagen den Weg zurück finden – der Profit ist geschmälert, mutmaßlich ist die Karawane sogar ein finanzieller Fehlschlag.

Potiphars Weib wird in „Paradise“ von der Gattin des reichen Kaufmanns vertreten – sie leidet unter einer rätselhaften Krankheit. Als ihr Mann zu einer neuen Reise aufbricht, befielt sie Yusuf zu sich und bittet ihn, sie zu heilen. Gurnah deutet mit   bestrickender Diskretion eine erotische Beziehung an, die die Krankhaftigkeit des isolierten Lebens im luxuriösen Haus einer muslimischen Dame der besten Gesellschaft prägt. Der Kaufmann hat sie ihres Vermögens wegen geheiratet und später, um seine erotischen Bedürfnisse zu stillen, eine weitere, jüngere, attraktivere Frau geehelicht. Als er von den verbotenen Beziehungen von Yusuf zu seiner ersten Frau erfährt, verzeiht er milde lächelnd. Er weiß, dass seine Frau unter einer schweren Neurose leidet.

Yusuf erkennt, dass er in einem Netz gefangen ist, Sklave seines Herrn. Als die Askaris kommen, afrikanische Söldner unter deutscher Führung, und willkürlich Männer festnehmen, um sie zum Dienst für einen bevorstehenden Krieg zu pressen, reißt Yusuf sich los und eilt den abziehenden Soldaten hinterher. Dieses Ende ist nicht gut – Yusuf vertauscht seine alten mit neuen Banden.

Gurnah zeichnet das Leben in Afrika detailreich – seine Tendenz ist haarsträubend. Die afrikanischen Herrscher zeichnet er – leider überzeugend – als Tyrannen, ihre Willkür ist blutig, ihre Triebfeder keinen Deut besser als die der Kolonialherren: Gier. Die Yusufs des großen schwarzen Kontinents, so klug und schön sie sind, kennen und weisen keinen Ausweg. Pire: Rassismus ist kein Privileg blauäugigblonder weißer Männer&Frauen, in Gurnas Afrika glauben die Araber fest, sie seien den Afrikanern überlegen, Pigmente grundieren nur eine von vielen Spielarten des Rassendünkels…

„Paradise“ – den Titel könnte der  Nobelpreisträger 2021 nicht sarkastischer gewählt haben.

                                                                                     Ulrich Fischer

Abdularazak Gurnah: Paradise. London 2004 (Bloomsbury),  247 S., 9,99 GBP