Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung

 

 

 

Elfriede Jelineks „Tod-krank.Doc“  in Bremen uraufgeführt

 

BREMEN.  Elfriede Jelineks umfangreiches Œuvre greift thematisch weit aus, aber neben der Vielfalt behaupten sich auch Konstanten. Dazu gehört der Feminismus, den sie schon als   junge Schriftstellerin propagierte („wir sind lockvögel, baby!“, 1970) und für den sie sich auch heute noch engagiert – auf eine ganz spezielle Art in ihrem Stück „Tod-krank.Doc“, das am Freitag in Bremen uraufgeführt wurde.

 

 

Das Stück

Das in sechs Blöcke aufgeteilte Stück hat eine Schlüsselszene, sie dreht sich um ein Verbrechen, das in Österreich und weit über die Landesgrenzen hinaus Aufsehen erregte. Josef Fritzl hatte seine Tochter in einem von ihm gebauten Kerkersystem unter seinem Haus fast 24 Jahre lang gefangen gehalten und mit ihr Kinder/Enkel  gezeugt.

 

In dieser Schlüsselszene kann man einen inneren Monolog erkennen, den des Verbrechers. Er sieht sich als gesunden Mann, der nichts tut, als seine Rechte wahrzunehmen. Der Protagonist spricht nicht, nur seine Assoziationen, willkürlich aneinander gereiht, sind zu hören – eine dumpfe, phallische  Selbstermächtigungsrede, die den totalen Übergriff eines Mannes auf seine Tochter als das natürlichste der Welt schildert.

 

Die letzte Szene „In der Hölle“ nimmt Bezug auf diese sich normal gerierende, monströse Rechtfertigung – es könnten Assoziationen einer Frau sein, die lange in einem Kerker eingeschlossen ist. Die Tochter von Fritzl war ja keineswegs die einzige, es werden immer wieder solche Fälle bekannt, nicht nur aus Österreich.

 

Die beiden Szenen beziehen sich aufeinander. Die Frau schreit keineswegs auf, sie kämpft nicht gegen das Unrecht, für ihre natürliche Freiheit – sie wirkt dumpf, desorientiert, als räume sie ihrem Peiniger das Recht ein, sie zu unterwerfen, sich an ihr zu vergehen, sie zu versklaven. Es ist eine Szene über den Knechts-, besser Magdssinn.

 

Elfriede Jelineks  Kritik an den Frauen wirkt kaum minder stark als an den Männern – es ist ein Aufruf der Schriftstellerin an ihre Schwestern, endlich die Lähmung zu überwunden, den Istzustand als unerträglich zu begreifen und für die eigene Freiheit zu streiten, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten.

 

 

Die Inszenierung

 

Das Stück ist als Textteppich notiert, wie so viele Stücke Jelineks – die Dramatikerin überlässt es also dem Regisseur zu entscheiden, wie viele Schauspieler auftreten und welche Rolle sie übernehmen sollen: Mirko Borscht hat sich für sieben Darsteller entschieden, fünf Damen, zwei Herren. Er lässt sich im Programmheft zitieren: „Letztlich liegt in der Befreiung vom Leben das Leben.“ So rätselhaft wie dieses Paradox ist auch die szenische Begleitung, die er erfindet, sie verläuft in einiger Entfernung vom Text. Frauen werden in einem Krankenhaus operiert, sterben, verwandeln sich in Engel, steigen in den Himmel und werden dort in Vitrinen verfrachtet – Christian Beck hat ein phantastisches, opulentes Bühnenbild entworfen, die Technik zeigt ihre Muskeln. Es entsteht eine von Lemuren, lebenden Toten bewohnte Zwischenwelt.

 

Die Hölle bricht los bei der Uraufführung von Elfriede Jelineks "Tod-krank.Doc" in Bremen
Die Hölle bricht los bei der Uraufführung von Elfriede Jelineks „Tod-krank.Doc“ in Bremen

 

Die Bilder verrätseln den schwierigen, mitunter hermetischen Text noch einmal, nur selten erhellen sie ihn – aber einmal klappt es: Am Ende vom Bild der gefangenen Frauen in Fritzls Kerkerkeller bricht auf der Bühne die Hölle los. Die Nebelwerfer geben Vollgas, die Lautsprecher werden bis zum Klirrpegel gefahren,  Heavy Metal lässt die Ohren vom Kopf fliegen. Stroboskope lösen die Scheinwerfer ab, Blitze erhellen kaum die Schauspieler, die Brutalität und Sex auf eine besonders widerliche Art mischen – Blut fließt, Frauen werden mit frischen Därmen gewürgt – eine Walpurgisnacht, die den Ekel spürbar macht, die Abscheu, die Elfriede Jelinek in ihr Stück gelegt hat – das ist die Energie,  die sie entfesselt, um – empört – den negativen Tendenzen unserer Zeit entgegen zu treten. Kein Wort wird gesprochen – ist auch nicht nötig.

 

Aber es bleibt bei dieser vereinzelten Szene, ansonsten erregt der Regisseur wohl wider Willen den Verdacht, dass  er seine eigene Originalität in den Vordergrund rücken möchte. Das Ensemble verdient Respekt für den – auch körperlichen – Einsatz, aber fast allen fehlt es an handwerklicher Grundausstattung. Die   Artikulation lässt professionelle Sorgfalt vermissen – dabei muss man gerade bei Rätseln jedes Wort genau hören, um verstehen zu können, dass wir nichts verstehen können …

 

Nochmal zurück zum Stück

 

„Tod-krank.Doc“ – so eine mögliche Deutung des Titels –  könnte also die Diagnose lauten, die Elfriede Jelinek unserer Gesellschaft stellt, vor allem wegen des Geschlechterverhältnisses, des Oben/Unten, der dreisten Selbstermächtigung, die statt auf entschlossenen Widerstand auf Unterwürfigkeit trifft. Die Endung „Doc“ meint wohl weniger „Document“, als „Doctor“ – es wäre schon mal großartig, wenn das lähmende Verharren im Verblendungszusammenhang überwunden werden könnte – wozu der Text beitragen könnte: Die Dramatikerin als Ärztin an einer schweren, gefährlichen Volkskrankheit.

 

Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.

 

Ulrich Fischer

 

Internet: www.theaterbremen.de – Kartentel.: 0421 3653 345

Aufführungen am: 4., 12. und 18. Dez.; 18. und 31.Jan. – Spieldauer: 140 Min.