Untröstlich

„Heimweh & Verbrechen“ von Christoph Marthaler, Anna Viebrock u.a.  in Hamburg

 

HAMBURG.   Christoph Marthaler und sein Ensemble ließen sich für ihren neuen Abend von Karl Jaspers inspirieren; sie entlehnten ihren Titel „Heimweh und Verbrechen“ dessen Doktorarbeit. Der Philosoph und Psychiater hatte beobachtet, dass immer wieder Kindermädchen ihre Zöglinge umbrachten. Ein häufiges Motiv: Die Mädchen litten unter Heimweh. Sie hofften, wenn das Kind tot sei, würden sie nicht mehr gebraucht und könnten ins Elternhaus zurückkehren.

 

Differenzen, Gräben, Abgründe

 

Bei der Uraufführung am Freitagabend im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg spielten die Kindermädchen aber nur eine periphere Rolle – Heimweh überhaupt war das große Thema. Ein alter würdiger Herr zum Beispiel wollte gern nach Haus; er war Präsident und hatte ins Exil fliehen müssen; er würde zu Hause für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen – und leidet, weil er nicht zurück kann. Oder das Heimweh im ganz großen Maßstab – der Wunsch, ein erfülltes Leben zu führen und daran zu scheitern. Der Abgrund zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit –  das geht bis zur transzendentalen Obdachlosigkeit.

 

Der Abend ist schwermütiger als Marthalerabende bisher, aber er ist auch langweiliger.  Oft kann man nicht verstehen – französische Passagen werden zu leise gesprochen, die Geschichte einer Magd, die sie in Schwyzerdütsch erzählt, ist für Norddeutsche nur zu erahnen, lässt sich kaum entschlüsseln. Oft wird gesungen – sehr gut, aber dann verlieren die Worte gegenüber den musikalischen Valeurs zu stark an Gewicht.

 

Bedeutsamer Bahnhof

 

Anna Viebrock hat die Bühne entworfen und wieder eine Mischung gefunden, die die Rätsel des Abends einmal mehr verrätselt. Die riesige Bühne im Großen Haus erinnert auf den ersten Blick an eine  Bahnhofshalle einer kleineren Großstadt in Norddeutschland, Klinkerblenden zieren die Wände bis zur halben Höhe, darüber ein verblichenes Behördenlindgrün. In der Mitte dient eine große Flügeltür für Auf- und Abtritte, Türen links und rechts ergeben zunächst eine gewisse Symmetrie, die sich schnell auflöst, weil der Schein trügt. Links gibt es keine wirkliche Tür, sondern ein Mittelding zwischen Schrank und Beichtstuhl, auf dessen Dach ein Schlitten ruht. Links hinten geht der Bahnhofsraum in ein ärztliches Behandlungszimmer über, hier kann abgetrieben werden. Rechts neben dem Hauptportal steigt eine Treppe ins Nirgendwo, sie endet an der Mauer. Rechts sitzt das zehnköpfige Ensemble wie in einem Chorgestühl, das aber gleichzeitig auch an Plätze für Schöffen in einem Geschworenengericht erinnert. Einige Angeklagte müssen sich vor einem gleichgültigen Richter verantworten.

 

Alle Schauspieler bestechen durch unverwechselbare Eigenheiten, stellen scharf konturierte Typen dar, Originale – Irm Hermann mimt mit königlicher Haltung und unverwechselbarer Stimme eine Diva aus hohen Theaterhimmeln. Aber sie hat eine überraschende Vergangenheit. Sie erzählt, ihre Figur habe als junges Mädchen fünf Jahre im Gefängnis gesessen, sie hatte ihren Vater erschlagen- mit einer Hacke. Sie denkt gern an ihre Tat zurück. Rache ist süß!

 

Trotz solcher Geschichten, die einem die Haare zu Berge stehen lassen und die die Zuschauer dazu bringen, sich abgründige Ergänzungen auszudenken – warum hat dieses Mädchen den lieben Papa mit der Hacke bearbeitet, welches Motiv hatte sie wohl? – überwiegt das Gefühl von Willkür bei der Komposition der Collage. Zusammenhanglosigkeit. Eine Geschichte reiht sich an die andere, einige bleiben unverständlich – und man schaut auf die Uhr. Die gut zwei Stunden ziehen sich mitunter zäh. Marthaler war früher besser, viel besser. Es ist gut, Expeditionen ins weite Feld des Ernstes zu unternehmen, die Schwermut nicht zu schnell heiter abzufedern – aber ein Mangel an Zusammenhang stiftet noch lange kein absurdes Drama.

 

Der alte Schwung ist hin. Dieser Abend weckt Heimweh nach dem guten alten (jungen) Marthaler auf der Höhe seiner Kraft.

Ulrich Fischer

Aufführungen am 27.  Feb.; 2. März – Spieldauer: 2 Std. 10 Min.

Kartentel.: 04024 87 13 – Internet: www.schauspielhaus.de