Losigkeit

Losigkeit

Brechts „Mutter Courage“ im Hamburger Thalia – ein bekümmerter Verriss

 

HAMBURG. „Mutter Courage“ ist ein moderner Klassiker. Klassikerpflege ist ein Kernauftrag deutscher Theater. Insofern ist es ein schöner Zug vom Thalia Theater in Hamburg, Brechts Meisterwerk mal wieder neu zu inszenieren. Philipp Becker führt Regie, kein klingender Name. Offenbar ein junger Mann.

 

Er will sich wohl profilieren und versucht, sich von Brechts Modellinszenierung abzusetzen:

 

Zeitlos

 

Brecht lässt „Mutter Courage“ im 30jährigen Krieg spielen. Davon ist in der Inszenierung nichts zu sehen. Bühnenbildnerin Bettina Pommer ist ebenso um Zeitlosigkeit bemüht wie Katharina Müller, die die Kostüme entworfen hat. Brecht hat vor jeder Szene genau beschrieben, wann und wo sie spielt – diese Informationen, die den Zuschauer kurz und knapp ins Bild setzen, fehlen in Beckers Inszenierung.

 

Auch der Text ist stark ausgedünnt. Eine wichtige Szene, in der Mutter Courages Tochter, die Stumme Kattrin, eine Stadt vor einem Überfall des Feindes warnt, ist kaum zu verstehen. Die Stumme Kathrin holt aus dem Wagen ihrer Mutter, einer Marketenderin, eine Trommel und macht so viel Lärm, dass die Stadtbewohner gewarnt und aufmerksam werden. In Beckers Inszenierung fehlt die Trommel.

 

Ortlos

 

Und das Schärfste: kein Wagen, nirgends. Mutter Courage zieht mit einem Wagen, in dem sie ihre Waren mit sich führt, durch das kriegsverheerte Europa. Der Wagen ist ganz konkret wahnsinnig schwer zu ziehen, symbolisch die Last des Krieges, die Mutter Courage mit sich schleppt. In Brechts Modellinszenierung zog Mutter Courage schwer am Wagen – in Hamburg ist er weg. Das berühmteste Bild aus Brechts Inszenierung zeigt Helene Weigel als Mutter Courage, wie sie den Wagen zieht – auf einer Drehbühne. Obwohl die Marketenderin alle Kraft anspannt, kommt sie nicht vom Fleck.

 

Ein solches, sprechendes Bild fehlt in Beckers Inszenierung. Man fragt sich, warum er das Stück inszeniert. Warum beint er es so aus, dass keiner, der das Stück nicht vorher gelesen oder schon einmal gesehen hat, es verstehen könnte? An dieser Orientierungslosigkeit ändert auch ein vielköpfiger Chor nichts. Im Gegenteil. Die Sänger aus Altona und ihre Gäste erzeugen mit ihren Chorälen Melancholie, doch nichts Spezifisches. Ihre Worte sind, wie so oft bei Chören, nicht zu verstehen, weil die Sänger zu verschwommen artikulieren. So bleibt selbst die Musik abstrakt.

 

Gabriela Maria Schmeide spielt Mutter Courage. Ganz im Sinn Brechts sagt sie, was sie antreibt: Sie will ihre Kinder durch den Krieg bringen. Und ihren Schnitt machen. Die Schauspielerin zeigt auch das Rätsel des Stücks: Mutter Courage verliert alle Kinder, eines nach dem anderen – und macht doch weiter. Sie büßt Hab und Gut ein und hört nicht auf. Warum?

 

In der DDR waren viele Kritiker gegen Brecht – warum lernt Mutter Courage nicht?, fragten sie den Stückeschreiber. Brecht erwiderte lakonisch: Es gehe nicht darum, dass Mutter Courage auf der Bühne lerne, sondern das Publikum im Zuschauerraum. Brecht hat ein Lehrstück geschrieben.

 

Witzlos

 

Diese Energie, der ganze didaktische Eros, geht bei Becker verloren – und damit die Mitte des Dramas. Seine Inszenierung wirkt langweilig – und humorlos. Dabei hat Brecht einen Dialog voller Witz geschrieben – im Thalia wurde bei der Premiere am Freitag kaum gelacht, bestenfalls ein paar Mal geschmunzelt. Von den Angriffen gegen die Großen, gegen die Kriegsgewinnler kommt kaum etwas über die Rampe. Das liegt zum einen an den Schauspielern, die ungeschickt geführt werden, zum andern an so vielen unberatenen Strichen im Text.

 

Junge, neue Regisseure sollen sich beweisen, sollen zeigen, dass sie es besser als die Alten können, sollen alte Texte neu interpretieren, die Aktualität für unsere Zeit herausarbeiten – aber wenn sie so weit hinter den alten Meistern zurückbleiben, bemerkt man ihre Schwächen. Brecht war Realist, er sagte, die Wahrheit sei konkret. Becker zieht die Abstraktion vor, die Wahrheit geht verloren. Welche Wahrheit? – Brechts Konzept ist weit überlegen: besser, weil anschaulicher, theatralischer, überzeugender.

 

Und engagiertes Theater brauchen wir doch gerade heute, wo die Gefahr immer größer wird, auch in Deutschland alte Fehler zu wiederholen. Diese Inszenierung, die noch dazu am Anfang der Lessingtage des Thalia steht, leistet zu diesem gesellschaftspolitisch bedeutsamsten Auftrag des Theaters keinen Beitrag.

 

Ulrich Fischer

 

Aufführungen am 6., 7., 18. u. 19. Feb.; Aufführungsdauer: 2 Std.

Kartentel: 040- 32814444 – Internet: www.thalia-theater.de