Scherz, Satire, Revolution und tiefere Bedeutung

Scherz, Satire, Revolution und tiefere Bedeutung

René Polleschs „Ich kann nicht mehr“ in Hamburg uraufgeführt

 

HAMBURG.  René Pollesch am Deutschen Schauspielhaus wieder zu treffen, ist reizvoll, denn dort hat   seine staunenswerte Karriere als DramatikerRegisseur im Jahr 2000 einen starken Schub bekommen. Pollesch ist eine absolute Ausnahme. Dramatiker pflegen in der bürgerlichen Gesellschaft Stücke zu schreiben, für deren Aufführung Tantiemen zu verlangen und von diesem Geld zu leben. Pollesch hingegen inszeniert in der Regel seine Stücke selbst – nur in seltensten Ausnahmefällen gestattet er einem anderen Regisseur, eines seiner Schauspiele zu inszenieren: „Gibt es den Text als Endprodukt, steckt darin auch die Probenarbeit. Das ist von niemandem mehr einholbar“,  begründet er seine Entscheidung. Wichtiger als der Profit ist Pollesch ganz offenbar der Gehalt. Er ist eben ein Revolutionär.

 

Gegensätze, Widersprüche

 

Und die Revolution spielt auch eine wichtige Rolle in seinem neuen, glänzenden Stück „Ich kann nicht mehr“. 18 Mädchen, junge Damen, treten im Kampfanzug auf, marschieren an die Rampe und brüllen: „I C H bin der Mann!“, und damit sie niemand missversteht, brüllen sie es nicht einmal, nicht zweimal – sie brüllen es sieben Mal. Sie sehen blendend aus, exerzieren ganz gut und drohen mit Maschinenpistolen – Fidel Castro hätte seine Freude daran gehabt. Aber im theatertheoretischen Diskurs, der „Ich kann nicht mehr“ grundiert, erklärt Pollesch das revolutionäre Theater für mausetot. Es wirkt nicht, wie gewünscht. – Christine Groß hat den Chor einstudiert, er ist gut zu verstehen – und tritt den vier Protagonisten gegenüber: Kathrin Angerer, Sachiko Hara, Bettina Stucky und Daniel Zillmann. Sie vertreten die Individuen, der Chor das Kollektiv. Die Antagonisten können sich nicht verstehen, vor allem, wenn ein Schauspieler gleichzeitig mit dem Chor spricht. Der Bühnenwitz hat tiefere Bedeutung, das Spannungsverhältnis von Kollektiv und Individuum ist ein schwerer Streitpunkt zwischen bürgerlicher und revolutionärer Philosophie.

 

Die Lehre von der Leere

 

Der Gegensatz wird ein wenig zu sehr ausgewalzt, aber dann kommt schon der nächste – es geht um die Leere. Und die Fülle. Neue Kostüme, warum weiß niemand; an völlig unpassender Stelle werden drei überlebensgroße Pappküken rein- und wieder rausgefahren, so dass das Absurde heitere Höhepunkte der Zusammenhanglosigkeit feiert. Der Chor zeigt auch tänzerische Qualitäten und neben   Anspielungen auf Goethe, auf Filme und das revolutionäre Ballett im China Maos („Das rote Frauenbataillon“) wird viel Musik (ein)gespielt, laut, unpassend, dann wieder sentimental einfühlsam, schmalzig schlagerselig.

 

Die dumme Pute, herzzerreißend

 


Kathrin Angerer in Gelb
Chor: Svea Bein, Julia Buchmann, Saskia Corleis, Alica Dietzel, Lillo Aline Dönselmann, Hannah Rebekka Ehlers, Laura Ehrich, Laura Eichten, Verena Gerjets, Lucie Anabel Gieseler, Veronika Hertlein, Nina Jacobs, Tabita Johannes, Raffaela Kraus, Helene Krüger, Luise Leschik, Klaudija Parizoska – Copyright (C) Thomas Aurin

Kathrin Angerer wächst zum Star des Abends: sie spielt eine Frau, die das Drama vermisst und auf ihm besteht. Der Diskurs spielt auf eine aktuelle Diskussion von Bühnenleuten über das postdramatische Theater an. Gibt es heute das Drama überhaupt noch, oder ist es völlig obsolet? – Kathrin Angerer will es. Persönlich – und natürlich auch als Schauspielerin. Die Aktrice wirkt zerbrechlich und spricht klagend mit kindlichem Ton, sie spielt ein dummes Huhn, aber gefühlvoll und liebenswert. So ist das Theater – unmöglich. Wie das Leben.

 

Es wird bei der Uraufführung am Samstagabend im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg viel gelacht und der Applaus wollte nach 80 Minuten Spielzeit gar nicht enden.

 

Berührend

 

Dann trat zu den Hauptdarstellern und zum Chor noch das Leitungsteam – unter ihnen der Bühnenbildner, Wilfried Minks, der Schöpfer der RiesenPappKüken. Minks saß im Rollstuhl, er konnte sich nur mühsam bewegen, die Augen wirkten fast erloschen. Der Greis bemerkte aber die Freude um ihn herum und den Applaus, der auch ihn ehrte. Mir war, als wäre das ein Lebenselexier für den alten Meister. Es war eine großartige Idee, den alten Mann mitarbeiten und am begeisterten Schlussapplaus teilhaben zu lassen.

 

Manchmal könnte man denken, René Pollesch sei, als Dramatiker wie als Regisseur, ein alter Zyniker, dem nichts heilig ist und der Theater wie Leben gnadenlos durch den Kakao zieht. Aber bei Minks Auftritt wird klar:

 

Auch René Pollesch hat ein Herz.

Ulrich Fischer

Aufführungen am 4., 9. u. 30. März;  Aufführungsdauer: 80 Min.

Kartentel.: 040 24 87 13 – Internet: www.schauspielhaus.de