Bilanz

Bilanz

Frank Castorfs letzte Tage als Berliner Volksbühnenintendant

 

BERLIN. Frank Castorfs Bilanz als Intendant der Volksbühne kann sich nach 25 Jahren sehen lassen. Er hat ein Ensemble zusammengeführt, dessen Renommee weit über die Grenzen unserer Republik hinaus strahlt und das schwerste Brocken stemmen kann; seine Regiekollegen an der Volksbühne, vor allem René Pollesch, genießen hohes Ansehen; das Haus ist halbwegs renoviert, Castorf hat Geduld, Hartnäckigkeit und Wut genug aufgebracht, um dem notorisch kunstfeindlichen Berliner Senat das Nötigste abzuringen, und er selbst genießt Ruhm, wird an erste Bühnen nicht nur im Inland als Regisseur eingeladen und bei Kritikern wie anderen Banausen in der Schublade „Stückezertrümmerer“ abgelegt.

Aber seine Bilanz ist nicht nur gut, sie ist glänzend – das erkennt, wer tiefer blickt.

 

Die Volksbühne in Berlin

Ein Schimmer

Die Berliner Volksbühne liegt im Osten Berlins am Rand der Stadtmitte, am Rosa-Luxemburg-Platz. Markante Erkenntnisse der Revolutionärin, zu deren Ehren und Andenken der Platz seinenihren Namen trägt, sind in Erz gegraben, ins Pflaster eingelassen, damit die Bürger sie besser mit Füßen treten können. Nebenan residiert die Partei „Die Linke“ – und so ist hinreichend markiert, dass dieses Theater, dessen Vorgänger 1913 mit Arbeitergroschen errichtet wurde, ein Theater im politischen Raum ist, links.

Vielleicht ist der Gegensatz zwischen Theater für das Establishment und Volkstheater nie so plastisch hervorgetreten wie im Vormärz in Wien. Nestroy machte sich über die Burg lustig und in seinem Volkstheater lachten die Dienstmädchen darüber, wie die Neurasthenie ihrer unbefriedigten Herrinnen mit Migräne, auf der Burg dem Alltäglichen ins Tragische enthoben, in den Parodien des Volkstheaters ins Lächerliche, ins Niedere herab gezogen wurden. Nestroy zieren Siegespalme und Lorbeer bis heute – und der Kampf geht weiter.

Konnte Frank Castorf an den Ruhm des Unsterblichen anknüpfen? Hat auch er, sein Genius mit seinem Volkstheater, das bürgerliche Theater seiner und unserer Epoche überflügelt?

Faust

Für seine letzte große Inszenierung an der Volksbühne wählte Castorf Goethes „Faust“. Und er „zertrümmerte“ Faust, wie erwartet. Unter „zertrümmern“ kann man vielleicht verstehen, dass Castorf dekonstruiert.

Er zerlegt, analysiert also das Drama, das er seiner Inszenierung zu Grunde legt und mischte Mittelalter, 19. und 20. Jahrhundert, das es den geschichtsbewussten Zeitgenossen graust. In den Kritiken äußerten einige Journalisten Verwunderung, auch Missfallen, dass Castorf den „Faust“ um große Strecken von Zolas „Nana“ erweitert hat. Was soll das?

Ein paar Vermutungen, angeregt durch Castorfs Wahl:

Margarete spielt im Ersten Teil der Tragödie eine große Rolle. Faust verliebt sich in das junge Mädchen, er verführt sie, Grete wird schwanger und sucht Heil in der Kirche. Vergeblich. Dann tritt sie im letzten Akt auf: Margarete ist als Kindsmörderin zum Tod verurteilt. Faust und Mephisto verschaffen sich in der Nacht vor der Hinrichtung Zugang zu ihrem Kerker – aber sie will sich nicht befreien lassen: „Heinrich! mir grauts vor dir!“

Wo war Grete inzwischen? Sie tritt in der Tragödie erstem Teil nur selten auf, ist aber dabei, als Valentin, ihr Bruder, stirbt, eine Intrige Mephistos. Valentin leidet darunter, dass seine Schwester ihren guten Ruf verspielt hat. Er schimpft sie, sterbend, eine Hure: „Und wenn dich erst ein Dutzend hat,/ So hat dich auch die ganze Stadt“.

Könnte es nicht sein, dass Castorf Anstoß daran nimmt, dass Goethe sich lieber mit Faust auf seinen Gedankenflügen und Fluchten in die eleganteste, tiefgründigste Melancholie beschäftigt, als mit dem armen Gretchen? Und dass Castorf darum ihrem Schicksal nachspürt und schildert, wie dreckig es beispielsweise Mädchen im 19. Jahrhundert ging, die ihren guten Ruf verloren hatten?

Die Mädchen gehen Zuschauern unserer Generation auf die Nerven – denn sie lassen sich von ihren Männern die schlimmsten Demütigungen gefallen (beschimpfen, missachten, verprügeln) und halten dennoch an ihrer Liebe fest.

Wie Grete – die ja im letzten Moment am Ende von Faust II ihren Heinrich vor dem Zugriff des Teufels rettet: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan.“

Selbstkritik

Dabei ist Castorfs Kritik umfassend. Selbstkritik inbegriffen. Nana spielt im Milieu des Tingeltangels (ihre Vergangenheit als geniale Hure [„toute puissance de son sexe“] spielt nur indirekt eine Rolle), des billigsten Theaters – zu dem sich auch das Volkstheater zählt. Es macht Geschäfte mit Brüsten und Ärschen, beutet die aus der Wohlanständigkeit herausgeschleuderten Mädchen ruchlos aus. Castorf dürfte auch sich selbst mit der Figur des Theaterdirektors meinen, den in Berlin Daniel Zillmann als verfressenes, versoffenes, amoralisches, verficktes, autoritäres, anmaßendes und nicht zu vergessen: dummes Schwein in einer Überspitzung zeigt, die die Zuschauer zu Begeisterungs- und Lachstürmen hinreißt. (Übertreibung ist eines der wichtigsten Kunstmittel des Volkstheaters, gesetzt gegen die Differenzierungskunst des bürgerlichen Theaters.)

Anfangs war noch der mutmaßliche Nachfolger von Castorf, Chris Dercon, durch den Kakao gezogen worden, so dass also die Kritik die Volksbühne, ihren jetzigen und künftigen Leiter, und das Volkstheater selbst umfasst nebst Gesellschaft und Gegenwart:

Castorf betont Fausts Tätigkeit als Kolonialherr im 5. Akt des Zweiten Teils – und führt den Gedanken bis in unsere Gegenwart weiter. Ist der Kolonialismus nicht eine Ursache der heillosen Verhältnissen heute im Nahen Osten und Nordafrika? An der Flucht so vieler Erniedrigter und Beleidigter?

 

Frank Castorf – Portrait of the Artist as A  Young Man

Zertrümmerer? Von wegen!

An der Oberfläche mag Castorfs Inszenierung, die nervenzerrüttende sieben Stunden dauert, lange wüste Strecken schwerer Trockenheit und Ödnis inclusive, wirken wie Chaos. Schließlich ist ja Mephisto des Chaos wunderlicher Sohn.

Aber dieses Chaos ist ein pädagogisches, didaktisches.

Ars docet et delectat. Erfreut hat die Kunst uns mit vielem Quatsch und Blödsinn, wir haben viel gelacht und hübsche Mädchen haben uns ihre Reize offenbart. Aber die Kunst lehrt auch.

Wir sollen hinter oder unter dem Chaos die Ordnung entdecken. Und die hat Castorf, als preußisch korrekter Anarchist, natürlich unter der chaotischen Oberfläche versteckt wie der gütige Vater die Eier für die Kinder an Ostern.

Was sollen wir finden?

Wir sollen finden, dass es gar nicht um Faust geht, sondern um Gretchen. Das Weltendrama müsste, wenn es nach Castorf ginge, „Gretchen“ heißen, oder „Faust und Gretchen“, am besten vielleicht: „Gretchen & Faust“.

Und wir sollen lernen, dass die Gretchen(s) gefälligst sich nicht alles gefallen lassen sollen. An den heillosen Verhältnissen sind nicht nur die Unterdrücker schuld, sondern ebenso die Unterdrückten. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.

Castorf ist ein Revolutionär. Wie Nestroy einer war. Die 48er Revolution ist gescheitert … aber in the long run?

Castorf ist ein Erbe Nestroys. Er ist gescheitert. Aber in the long run …?

Heut‘ gehen wir geschlagen nach Haus/ Die Enkel fechten es besser aus.

Und die Enkelinnen, nicht zu vergessen.

Hat denn nun der Volksbühnenmann Castorf das bürgerliche Theater überflügelt?

Ja, hat er. Nehmen wir eine der besten, ach was: die allerallerbeste „Faust“-Inszenierung der Nachkriegszeit, nehmen wir Peter Steins Interpretation von 2000. Stein wurde angegriffen, denn er hatte realisiert, was kaum einer in der großen Theaterwelt wirklich gewagt hatte: Er hatte „Faust“ ungekürzt gespielt. Und zwei Tage für die Aufführung gebraucht.

Eine Inszenierung, die unvergessen ist und lange, lange nachwirkt. Sie war reich und voller Erkenntnis. Meisterhaft. Aber Castorfs Inszenierung, der viel von Steins Einfühlungsvermögen abgeht, hat eine Dimension mehr: Die Kritik an Goethes opus magnum. Daraus folgt die Parteinahme für Margarete. (Ein guter Revolutionär muss immer für die Schwächsten Partei nehmen.) Und der Hinweis für uns Zuschauer, was wir zu tun haben. Denn der „Faust“ ist noch gar nicht zu Ende.

Das ist großartig. Hiermit wird Frank Castorf zum Großvolksregisseur erster Klasse ernannt.

Zwei Nachschriften:

1. Walter Ulbricht soll mal gesagt haben, zur Vollendung fehle der dritte Teil von „Faust“. Der werde aber gerade verwirklicht: mit der (seiner) DDR. Ulbricht irrte – aber es stimmt schon, wir sind aufgefordert, das Drama zu vollenden. (Nicht auf der Bühne, in der Wirklichkeit.)

2. Bei allen Unterschieden der beiden Inszenierungen von Stein und Castorf gibt es eine Übereinstimmung. Goethe sah sich wohl als „Faust“. Und Stein. Und Castorf auch.
Ulrich Fischer

Aufführungen am 10., 12., 17., 18. und 31. März.; 1., 14. und 15. April. –Aufführungsdauer: 7 Std.
Theaterkasse: 030 240 65 777 – Internet: www.volksbuehne-berlin.de