Kultur für alle!

 

Höhepunkte der Ruhrfestspiele

 

Nadja Robiné als "Mutti" Foto: Kerstin Schomburg
Nadja Robiné als „Mutti“
Foto: Kerstin Schomburg

RECKLINGHAUSEN. Das Programm der Ruhrfestspiele schien beim ersten Überfliegen einen Grauschleier zu haben – nix Besonderes, Theateralltag. Doch der Schein trog.

 

Shakespeares „Sturm“ 2014

 

Schon der Auftakt war orkanisch. Die Ruhrfestspiele arbeiteten mit dem  Münchner Residenztheater zusammen – trotz aller Kritik immer noch eine namhafte Bühne. Bekannter als der   isländische  Regisseur Gísli Örn Garðarsson ist der Hauptdarsteller: Manfred Zapatka. Wegen seiner Film- und Fernsehrollen (Tatort)  ist der Mime mit der unverwechselbaren Physiognomie  und Stimme nicht nur Bühnenfreunden bekannt  – er soll Zuschauer locken, die sonst selten oder gar nicht ins Theater gehen: Das alte und immer wieder bewährte Rezept, Startheater. Zapatka konnte dann auch tatsächlich den Löwenanteil des einhelligen, langandauernden Beifalls im Großen Festspielhaus auf Recklinghausens Grünem Hügel verbuchen.

 

Regisseur Garðarsson gab sich als junger Wilder: Er dekonstruierte nach allen Regeln der Kunst Shakespeares „Sturm“. Übrig blieb ein Alptraum über Diktatur, Gewalt, Folter und Tod im 21. Jahrhundert.  Börkur Jónsson hatte sich zu seinem Bühnenbild, einem System von Käfigen,  von   Fotos und Fernsehfilmen über Guantanamo und Abu Ghraib anregen lassen. Die meisten Regisseure deuten Prospero, die Hauptfigur,  als guten Menschen. Als junger Herzog   von seinem Bruder verjagt, ist er im Exil   gereift, und um das Unrecht wieder gut zu machen, ergreift Prospero umsichtig die Initiative. Anders Garðarssons Interpretation. Prospero ist im Exil verbittert. Er wirft sich zum Despoten auf, entwickelt sich zum sadistischen Kerkermeister. Alle Mitmenschen verachtet er als unter ihm stehend:  So ermächtigt er sich selbst – ein absoluter Herrscher.

 

In Zeiten der Demokratie unzeitgemäß? Keineswegs: Offenbar fürchtet der junge isländische Regisseur wie viele die Gefahr einer Wiederkehr des Totalitarismus angesichts des Anspruchs von Geheimdiensten, alles und alle zu überwachen. Garðarssons scharfsinnige Inszenierung mischt Attacken auf die Terroristenhysterie mit Szenen, die manchmal an Goya, dann wieder an bluttriefende Videospiele erinnern. Das spielfreudige, hochkarätige Ensemble trägt kraftvoll die ästhetisch anspruchsvolle und politisch brisante Aufführung, die allerdings auch anfechtbar ist: Sie ist allzu unübersichtlich. Wer Shakespeares „Sturm“ nicht gut kennt, geht leicht in der windgepeitschten Inszenierung unter.

 

Ein Wochenende

 

An einem einzigen Wochenende wurde das weite Spektrum der Ruhrfestspiele überdeutlich deutlich – und die Leistungskraft der Festspiele, die nach dem Zweiten Weltkrieg (genau 1946/47) auf Initiative von Bergleuten aus Recklinghausen und Hamburger Künstlern ins Leben gerufen wurden. Pflege des klassischen Erbes und Offenheit für Neues trafen aufeinander.

 

Recklinghausen macht ganz bewusst …

 

Im Großen Haus auf Recklinghausens Grünem Hügel trat am Freitag Isabelle Huppert auf, die bekannteste Schauspielerin Europas. Sie verkörperte die Hauptrolle in Marivaux‘ „Les fausses confidences“ („Falsche Vertraulichkeiten“),  Regie führte Luc Bondy. Er hatte, zusammen mit Peter Stein und der Berliner Schaubühne, in den 80er Jahren Marivaux für die deutschen Theater (wieder)entdeckt und konnte jetzt, zusammen mit alten Gefährten (z.B. Moidele Bickel, die wieder die Kostüme entwarf), auf seine Erfahrungen zurückgreifen. Bondy aktualisierte und ließ das Stück, 1737 uraufgeführt, im Paris von heute spielen. Die Inszenierung war nicht ganz so makellos wie ihr Star, Isabelle Huppert hat eine Wandlungsfähigkeit, die Bewunderung hervorruft, und obwohl sie schon 60 ist (wie ungalant, das zu erwähnen), machte es ihr keine Schwierigkeiten, eine schöne Witwe mit jugendlicher Anmut(ung) zu spielen. Das Publikum ließ sich auch von der Sprachbarriere nicht abhalten, der Beifall war begeistert.

 

… und erfolgreich …

 

Einen Tag später, am Samstag, gab es eine Uraufführung – innerhalb eines ganzen Zyklus‘ von Uraufführungen, die die Ruhrfestspiele in einer eigenen Spielstätte präsentieren, der Halle König Ludwig 1/2, einer Art Werkstattbühne. Dort ging zum ersten Mal Nis-Momme  Stockmanns neues Stück über die Bühne: „Phosphoros“. Stockmann, einer der erfolgreichen deutschen Dramatiker der mittleren Generation,  hat einen Hang zur Größe und zum philosophisch bohrenden Fragen: Was ist die Zeit? Was können wir Menschen wissen, was bestimmt unser Schicksal?: Wir selbst, die Umstände?

 

Anspruchsvolles Theater mit Engagement. Stockmann plädiert gegen neoliberalen Egoismus und für Initiative: Wir sollen unser Schicksal nicht hinnehmen, nicht erleiden, sondern etwas tun.

 

Das passt prächtig zur Quintessenz von den „Falschen Vertraulichkeiten“. Luc Bondy legt nahe, indem er Marivaux‘ Rokokokomödie in unsere Gegenwart verlegt, dass die Gleichheit – Égalité, eines der drei Ideale der Französischen Revolution – heute noch nicht verwirklicht ist, weiter seiner Umsetzung harrt – und dazu bedürfte es einiger Initiative. Nachdrücklich. Und der Überwindung eines schrankenlos gewordenen Egoismus‘. Die Revolution ist noch lange nicht fertig, der Kampf geht weiter!

 

So bewahren die Ruhrfestspiele den Geist der Väter, der Arbeiterbewegung, und tragen ihn, auch als Auftrag, ins Heute. Schön, dass auch eine Bühne (und was für eine!) aus Frankreich   Recklinghausens Programm bereicherte, die Ruhrfestspiele verstehen sich als europäisches, als internationales Festival.

 

… Bayreuth Feuer unterm, …  äh, Stuhl!

 

Das war von Anfang an so – der Grüne Hügel, auf dem sich stolz das Große Festspielhaus in Recklinghausen erhebt, macht einem anderen Grünen Hügel Konkurrenz. In Bayreuth geht es um einen einzigen Künstler, selbstmurmelnd um einen deutschen, der den Führungsanspruch erhebt und alle anderen unterwirft – gegen diese Einfalt setzt Recklinghausen Vielfalt, gegen Doitschtum Internationales, gegen Führungsanspruch und Hierarchie, Geniekult die Kunst des Ensembles, gegen eine Kunst, die der Führer bewunderte, gegen einen immer anämischer werdenden Elitismus demokratische Kunst.

 

Kultur für alle!

 

 

Mutti – unsere liebe Kanzlerin

 

Juli Zeh und ihre Koautorin Charlotte Roos haben mit ihrem Drama „Mutti“ einen Pfeil ins Herz der Finsternis geschossen. Im Mittelpunkt ihrer Komödie steht Bundeskanzlerin Angela Merkel, die mit dem nicht nur liebevoll gemeinten Spitznamen „Mutti“ leben muss.

Juli Zeh hat sich als Schriftstellerin wegen ihres Scharfsinns, ihrer Courage und ihrer Treffsicherheit einen Namen gemacht. Mit „Mutti“ bestätigen sich alle Urteile über sie, in der Zusammenarbeit mit der Autorin und Regisseurin Charlotte Roos   übertrifft sie sich selbst. Die Uraufführung in Recklinghausens Halle König Ludwig 1/2, der Bühne, die die Ruhrfestspiele dem Neuen vorbehalten, begrüßte das Publikum mit einhelligem Applaus. Juli Zeh und Charlotte Roos nahmen gemeinsam mit dem Ensemble den begeisterten Beifall entgegen. Angela Merkel war leider nicht im Publikum zu erspähen, dafür aber auf der Bühne.

Die Bundeskanzlerin hatte offenbar wegen ihrer Dominanz Schwierigkeiten mit Politikerkollegen – sie musste einwilligen, an einem Seminar zur Kommunikationsoptimierung teilzunehmen. Die Handlung setzt ein, als Herr Hellmann (!), der Trainer, das Seminar eröffnet. Die SpielSituation ist komplex, mehrere Konflikte überlagern einander. „Angela“ muss zusammen mit „Sigmar“, „Horst“ und „Ulla“ das Seminar absolvieren; in Brasilien spielen die Spanier gegen die deutsche Mannschaft. Es ist Sonntag. Am Montag muss die Kanzlerin bekannt geben, dass erneut Zilliarden Steuergelder für Griechenland aufgebracht werden sollen.

Wenn die deutsche Mannschaft gewinnt, dürfte der Siegestaumel am Montag so groß sein, dass die Finanznachricht fast untergeht – Deutschland muss gewinnen! „Angela“ telefoniert mit dem Bundestrainer. Der tut, was er kann – aber das Spiel ist gefährdet. Rebellen demonstrieren vor dem Stadion, sie solidarisieren sich mit Bauarbeitern aus Katar, die den mörderischen Arbeitsbedingungen im Scheichtum zum Opfer gefallen sind. Die Sicherheitslage ist prekär, „Ursula“ erklärt, dass selbstverständlich keine deutschen Sicherheitskräfte in Brasilien sind, offiziell – inoffiziell sollen sie den Konflikt meistern. Die Hiebe der Dramatikerinnen fallen knüppeldick, das Publikum schmunzelt, lacht. Immer wieder: Szenenbeifall.

Jeder will sich profilieren, nur „Horst“ möchte zurück  ins heimatliche Bayern, weil ihm alles stinkt. Aber „Ursula“ sieht Möglichkeiten zu glänzen und stellt sich ständig hinter (!) „Angela“, „Siegmar“ plant eine Rede, um (endlich) aus dem Schatten von „Mutti“ herauszutreten – aber die gewinnt. Haushoch.   Souverän. Ja, spielerisch.

Kanzlerin mit kleinen Fehlern

Jeder Zuschauer kann sich Gründe für die Überlegenheit und Durchsetzungsfähigkeit „Muttis“ aussuchen – aber die Dramatikerinnen zeichnen die Kanzlerin nicht nur positiv: Sie will uns, die Steuerzahler/WählerInnen, manipulieren, und sie steht nicht hinter dem Protest gegen Katar und die Ausbeutung, sondern vertritt, wie alle Konservativen, die Maxime, dass erste Bürgerpflicht Ruhe sei.

Das Stück ist über alle Erwartung gelungen, die Konstruktionen der Fabel und der Figuren sind makellos miteinander verzahnt, der Dialog stützt sich immer wieder auf Wendungen der gegenwärtig geläufigen Politikersprache – die, so ins Feld der Satire gerückt, durchsichtig wird als Phrase, der „Sigmar“ als einziger selbst erliegt – er glaubt, was er sagt. Diesen Anfängerfehler würde „Mutti“ nie begehen. Da kann sie nur unmerklich lächeln

Inszenierung mit gröberen Fehlern

In Hasko Webers Uraufführungsinszenierung bewegt sich die Kanzlerin wie der König auf einem Schachbrett, ganz, ganz vorsichtig – aber jenseits des Offensichtlichen entgingen dem Regisseur subtile(re) Schichten des Schauspiels. Die Kanzlerin ist eine weit bessere Darstellerin ihrer selbst als Nadja Robiné. „Siegmar“ gibt Michael Wächter als dick und geltungssüchtig, „Horst“ bleibt in Sebastian Kowskis Verkörperung blass mit bayrischer Anmutung, Anna Windmüller arbeitet bei „Ulla“ das Strebertum der Ministerin heraus, die Tücke und Gefährlichkeit der Figur bleiben unterbelichtet, allerdings wird ihre falsche Loyalität deutlich, als trüge sie statt eines Handys einen Dolch in der modischen, farblich geschmackvoll aufs Kostüm abgestimmten, sehr teuren Designerinnen- Handtasche. Aber ganze Potentiale der Komödie bleiben bei der Uraufführung  unausgeschöpft.

Immer wieder gelingen Juli Zeh und Charlotte Roos Verdichtungen im Dialog, die zwar nicht das Zeug zum geflügelten Wort haben, aber  doch zur politischen Parole. Zu den besten „Stellen“ gehört „Sigmars“ Analyse, die „den Fußball als Speerspitze des globalisierten Raubtierkapitalismus entlarvt.“

„Mutti“, eine Koproduktion des Nationaltheaters Weimar mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, sind am rechten Ort für die Uraufführung, denn das Festival steht in der Tradition des kritischen Volkstheaters. Die Uraufführung markiert einen Höhepunkt des politischen Theaters unserer Tage.

Zahlenzahlen:

Auch die Zahlen sind erfreulich: „Insgesamt waren bei den Ruhrfestspielen 2014 99 Produktionen in 306 Aufführungen zu erleben, darunter 8 Deutschlandpremieren, 7 Uraufführungen und 5 Premieren der Inszenierung(…). Das Gros der 18 Koproduktionen der Ruhrfestspiele wird an renommierten nationalen und internationalen Theatern weitergespielt.

Die 68. Ruhrfestspiele erreichten (…)  insgesamt 82.789 Besucher und damit das zweitbeste Ergebnis der Geschichte der Ruhrfestspiele. Dies entspricht einer knapp 80 %- igen Auslastung„, lässt die Pressestelle wissen.

Die Ruhrfestspiele können einen exzellenten Jahrgang verbuchen. Frank Hoffmanns Vertrag als Intendant endet 2015.  Hoffentlich hat er   im kommenden Jahr wieder so eine glückliche Hand   wie in diesem.

Ulrich Fischer

www.ruhrfestspiele.de