Ballett ohne Tänzer

 

Zwischenbilanz der Ruhrtriennale

ESSEN. „El triunfo de la libertad“ („Der Triumph der Freiheit“) ist schon das zweite Ballett ohne Tänzer bei dieser Ruhrtriennale. La Ribot, Juan Dominguez und Juan Loriente treten erst gar nicht auf, sie begnügen sich damit, Idee und Konzept beizusteuern. Von der Decke der kahlen Bühne im PACT Zollverein in Essen (eine ehemalige Kaue, ein Duschraum der Bergleute) hängen zwei Vorrichtungen herab, die Laufschriften erzeugen können. Die verblüfften Zuschauer können dort knapp fünfzig Minuten eine Geschichte über ein spanisches Paar lesen. Unterbrochen von einigen Reminiszenzen und sonderbaren Zitaten erfahren wir von einer Hochzeitsreise und Flitterwochen in der Karibik. Es war schön, die Sonne versank im Meer und das einzig wirkliche Bemerkenswerte war eine Show. Nelson trat auf und er hielt, was die Werbung versprach: er knackte drei Walnüsse – mit seinem Penis. Klack, klack, klack.

 

Harte Witze

 

Fünfzig Jahre später schenkten die drei Kinder des Paares den goldenen Jubilaren noch einmal die gleiche Reise – und wirklich, Nelson trat noch immer auf. Diesmal knackte er statt Wal- Kokosnüsse: Plopp. Plopp. Plopp.

 

„Der Triumph der Freiheit“ erlaubt das Spiel. Es ist nicht neu, dass Künstler ihr Publikum darauf aufmerksam machen, dass wir nichts wollen, als unsere Neugier zu befriedigen, zuschauen. Angesichts der augenblicklichen schweren Krisen wirkt ein solcher Umgang mit dem Tanz, mit dem Publikum allzu leicht, ja frivol.

 

Das war ganz anders bei dem zweiten Tanzabend der Ruhrtriennale, der ohne Tänzer auskam. Romeo Castellucci legte seiner Inszenierung von Strawinskys „Frühlingsopfer“ eine Aufnahme von MusicAeterna zugrunde, Teodor Currentzis, der musikalische Leiter, betont kompromisslos die Rohheit und Brutalität, die Strawinsky seinem „Sacre du printemps“ eingeschrieben hat. Auch das Ambiente der Aufführung hat nichts Angenehmes: Die Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord trägt die Narben ihrer Industrievergangenheit. Gerade darum geht es Castellucci: Er spürt dem Geist der (unserer) Industriewelt nach, der instrumentellen Vernunft, die uns auch heute leitet. Das Ergebnis ist niederschmetternd:

Castellucci, der für Regie und Konzept verantwortlich zeichnet, hängt in den tiefen und hohen, aber schmalen Bühnenraum Behälter in verschiedenen Formen in den Schnürboden, die mit Tiermehl gefüllt sind. Der Musik folgend, öffnen computergesteuerte Maschinen synchron die Behälter – spielt das Orchester leise, rieselt das Tiermehl nur, beim Crescendo fallen Wellen und beim Fortissimo gibt es ganze Ladungen, die niederstürzen. Sechs Tonnen Tiermehl verwendet Castellucci, behauptet der italienische Meister und Gesellschaftskritiker, die Skelette von 75 Rindern seien hier zermahlen.

 

Tierfresser!

 

Opfer (Sacre) ist in herkömmlichen Inszenierungen eine Jungfrau, bei Castellucci sind es die Tiere, deren Knochen nach ihrer Schlachtung noch bearbeitet, verwendet und verwertet werden, Castellucci klagt unsere industriell-instrumentelle Vernunft an. Die Idee mutet anfangs befremdlich an – tatsächlich vermag sie das Drohende, Barbarische in Strawinkys Komposition zu verstärken und neu zu verstehen. Das Barbarische, das ist nicht unsere Vergangenheit, das Barbarische durchherrscht unsere Gegenwart.

 

Das war bislang der Höhepunkt der Ruhrtriennale. Die deutsche Erstaufführung von Louis Andriessens Musiktheaterstücks „De Materie“ war zwar spektakulär, blieb aber hinter Castellucci zurück – der Italiener wirkte wegen seines Engagements überzeugender.

 

Es geht vielversprechend weiter

 

Es stehen noch einige Premieren bevor: Ruhrtriennalen-Intendant Heiner Goebbels bringt seine „Surrogate Cities“ noch einmal auf die Bühne, diesmal als „Surrogate Cities Ruhr“ – und er erweitert sie: Mathilde Monnier hat eine Choreographie entworfen, 150 Leute aus der Region sollen auftreten. Und die Uraufführung von „manger“ („essen“) dürfte noch ein Höhepunkt werden: Boris Charmatz und sein „Musée de la Danse“ hatten schon mit „enfants“ („Kinder“) gezeigt, dass sie zur Weltspitze des modernen, engagierten, politischen Tanztheaters gehören.

 

Heiner Goebbels hat für sein letztes Jahr als Leiter der Ruhrtriennale ein spannendes Programm entworfen, allerdings hat er – als Komponist ein Musiktheatermann – das Schauspiel sträflich vernachlässigt, ja, an den Katzentisch gesetzt. Dafür hat es der Tanz in sich – wenn auch mitunter die Tänzer vermisst werden.

 

Die Ruhrtriennale, ein europäisches Fünfsternefestival vom Rang Avignons, Salz- und Edinburg(h)s, dauert noch bis zum 28. September.

Ulrich Fischer

 

Internet: www.ruhrtriennale.de