Absurde Nicht-Oper und die Zusammenhanglosigkeit

 

Romeo Castellucci inszeniert Becketts „Neither“ bei der Ruhrtriennale

BOCHUM. Der knappe Titel ist signifikant: „Neither“. Das Wort gibt es gar nicht alleingestellt, es heißt „neither … nor“, „weder … noch“. „Neither“ ist also eine unzulässige Verkürzung. Samuel Beckett wählt „Neither“ vielleicht, weil er nicht an die Logik glaubt. Weder in der Sprache, noch in der Wirklichkeit. Beckett attackiert alle jene, die gedankenlos das Überkommene für das Angemessene erklären.

 

Das Programmheft berichtet, Beckett habe den amerikanischen Komponisten Morton Feldman zum ersten Mal 1976 in Berlin getroffen; die beiden waren sich in der Ablehnung der Oper einig. Feldman habe den irischen Meisterdramatiker um einen Text gebeten. Feldman begann zu komponieren, Beckett schrieb und übersandte dem Komponisten ein äußerst knappes (Nicht?)Libretto: 10 Zeilen. 87 Worte. Ob es einen Zusammenhang gibt? Welchen Zusammenhang?

 

Losigkeit

 

Zunächst gibt es keinen Zusammenhang zwischen dem Orchester und der (einzigen) Sängerin. Laura Aikin, Sopran, klagt, ohne Worte, während die Duisburger Philharmoniker, die neben der Szene in der riesigen Jahrhunderthalle in Bochum sitzen&spielen, fragen – Charles Ives klingt mit seiner „Unanswered Question“ („Unbeantwortete Frage“) zunächst immer wieder an bei Feldmans Komposition. Emilio Pomàrico am Pult setzt – ganz im Sinn des Komponisten – auf Zurückhaltung, Diskretion – und ermutigt so Romeo Castellucci, den Regisseur, zur Dominanz. Die Musik fällt zurück auf Illustration, Begleitung, auf Filmmusik – und Castellucci erfindet Bilder, die an amerikanische Gangstermelodramen aus den vierziger Jahren erinnern. Der Sopran singt von der Stimmung einer Mutter, ihr wird von finsteren Männern, mal Gangstern, mal der Polizei, ihr Kind entrissen.

 

Aber eine konsistente Fabel darf es in einem absurden Stück/Libretto nicht geben. Heftig springt Castellucci von einem Bild zum anderen: ein geheimnisvolles Pferd tritt auf, ein rätselhafter Hund, gleich am Anfang Schrödingers Katze, mal tot, mal lebendig, mal gleichzeitigtotundlebendig und zum Schluss eine lebensgroße Lokomotive. Im spektakulärsten Moment schiebt die Lokomotive einen Teil des Publikums langsam aber unerbittlich nach hinten.

 

Eine wichtige Rolle spielt das Licht. Um die Begrenztheit unseres menschlichen Erkenntnisvermögens sichtbar zu machen, ist Zwielicht ein gutes Mittel – oft kann der Zuschauer nur ahnen, was auf der Bühne vor sich geht. Um dieses Zwielicht zu erzeugen, wird ein hoher Aufwand getrieben. Ein riesiger Kran außerhalb der Jahrhunderthalle hievt ein System von schweren, beweglichen Scheinwerfern von außen über das Dach der Halle, so dass die Scheinwerfer ihr Lichts durch die Oberlichter der Halle werfen können – ein filmischer Effekt entsteht. Ist das Realität, oder Film? Entweder – oder? Weder noch? Weder?

 

Neither!

 

Dieser Wahnsinnsaufwand mit dem Kran für die Scheinwerfer enthüllt innere Widersprüche der Produktion. Trotz oder gerade wegen vieler schöner, eindrücklicher, diffuser Bilder wird deren Opulenz überdeutlichdeutlich. Und Opulenz steht in schreiendem Widerspruch zum Hauptprinzip der Beckettschen Ästhetik des absurden Theaters: Reduktion.

 

Beckett strebte danach, mit einem (einzigen) Schauspieler auszukommen. Kein Wort mehr. Atem. Ersterben. Und in der Jahrhunderthalle wird ein ganzes Orchester gebraucht, neben einer Fülle von Statisten: Gangster, Polizisten, Doktoren, Maschinenjungen und Schauspieler – viel zu viel. Die Konzentration auf die Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens geht flöten – es gibt viel zu viel Ablenkung. Zerstreuung.

 

Samuel Beckett soll gesagt haben, er halte nicht viel von der Oper. Er hat bis heute Recht, sie ist viel zu frivol – und, trotz aller Phantasie, er hätte wohl, gefragt, ob ihm diese Art NichtOper gefällt oder wenigstens diese aufwändige Produktion, nur ein Wort gesagt und gebraucht:

 

„Neither!“                                                                              Ulrich Fischer

Auff. am 7., 12., 14., 19. und 20. Sept. – Die Vorstellung dauert 80 Minuten.

Internet: www.ruhrtriennale.de