Zugewinn

Michel Houellebecqs „Serotonin“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

HAMBURG. Michel Houellebecq

Michel Houellebecq

beschreibt in seinem neuen Roman „Serotonin“ eine Depression. Der Icherzähler, Florent-Claude Labrouste, eine Zeitgenosse, ist sechsundvierzig, studierter Fachmann für Landwirtschaft. Er erkrankt an Schwermut – warum: darüber versucht er, sich in einer Rückschau auf sein Leben klar zu werden.

Kindheit und Jugend waren erfreulich, seine Eltern wohlhabend, dem Jungen zugewandt, sie haben für eine makellose Erziehung gesorgt. Sein Studium an der Landwirtschaftlichen Hochschule  hat ihn zwar nicht begeistert, aber auch nie überfordert. Florent-Claude hat eine gut dotierte Stelle im Ministerium bekommen, später noch mehr als Berater für große Firmen verdient.

Auch als Mann  verzeichnet Florent-Claude Erfolge. Houellebecq macht sich wieder einen Spaß, sexuelle Erlebnisse weit jenseits des konventionellen Geschmacks ins Einzelne gehend darzustellen. Vor allem hat er seine Meisterschaft noch weiter verfeinert, Fellatio zu beschreiben. Houellebecq erweitert das sprachliche Feld des Erotischen um das Pornographische für die Literatur, getreulich ins Deutsche übersetzt vom kompetenten Stephan Kleiner.

In den Beziehungen zu Frauen findet sich der erste Grund für Florent-Claudes Melancholie. Er ist glücklich mit seiner Freundin und fängt dennoch eine Beziehung mit einer anderen an – als die Geliebte das erfährt, bricht sie mit ihm. Er versucht vergeblich, damit fertig zu werden. Noch viele Jahre später überlegt er, wie er sie wieder für sich gewinnen kann.

Ein zweiter Grund für die Depression ist die Landwirtschaftspolitik der Europäischen Union. Dieser Handlungsfaden gehört zu den fesselndsten des Romans: Houellebecq beschreibt überzeugend, wie französische Bauern trotz allen Fleißes ihre Höfe verlieren, weil die Politik sie im Stich lässt. Der Protagonist muss erleben, dass ein ehemaliger Kommilitone, sein bester Freund und   Spross einer uralten aristokratischen Großgrundbesitzerfamilie, bei einer Bauernprotestdemonstration das Gewehr erst auf Polizisten, dann auf sich selbst richtet – und er muss sich zugestehen, dass er selbst, Florent-Claude, in Diensten dieser Politik stand.

Es erscheint fast folgerichtig, dass Claude sich dem Christentum zuwendet. Die letzten Worte des Romans lauten: „… heute verstehe ich den Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen: Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich so deutlich werden?

Offenbar ja.“

Der Roman ist süffig, es fehlt nicht an amüsanten Provokationen (Florent-Claude bezeichnet Goethe als „Rindvieh“, einen „der grauenvollsten Schwafler der Weltliteratur“ – und eine japanische Freundin des Protagonisten hinterlässt Videos, in denen sie es mit Hunden treibt.)  Houellebecq bleibt also seinem Ruf als Provokateur treu und schildert die verabscheuungswürdigen Seiten unserer Epoche liebevolldetailversessenrücksichtslos. Aber er bleibt doch zurück hinter vorherigen Werken – die Konstruktion der Fabel ist nicht so umwerfend-geistvoll wie in „Plattform“ und die Satire nicht so treffend-komisch wie in „Unterwerfung“. – Der französische Meister nennt seinen Roman „Serotonin“, ein körpereigenes Gewebshormon, ein Neurotransmitter, den Florent-Claude mit Captorix stimuliert, damit ihm das Leben erträglich bleibt. Wer die Nase voll hat von der Herzlosigkeit unserer Gesellschaft und der Hirnlosigkeit der Politik, wer deprimiert ist wie Florent-Claude, dem kann, wie Serotonin Monsieur Labrouste, die Lektüre des Romans helfen.

Zeitweise. Kurzfristig.

mit Tilman Strauß, Jan-Peter Kampwirth, Carlo Ljubek, Samuel Weiss Copyright by Arno Declair

Falk Richter schmiegt sich für seine Bühnenfassung eng an den Roman an, verknappt ihn und es gelingt dem Regisseur, die dramatischen Elemente herauszuarbeiten. Am besten in dem Moment, in dem  Florent-Claudes (spätere) Geliebte Camille ihn um Hilfe ruft. Die junge Tierärztin war gerade in einem Riesenhühnerstall, zum allerersten Mal,  und hat die Schrecken der Massentierhaltung mitbekommen. Sie schreit ihre Erschütterung über das Elend der Tiere heraus, ihre Empörung – und Josefine Israel gelingt es, den Schrecken auszuloten. Es wird still im  Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Ganz still.

Die meisten Szenen sind episch – die Rollen werden von sechs Darstellern übernommen, zwei Damen, vier Herren. Alle spielen Teile des Protagonisten; so wird deutlich, dass dieser depressive Landwirtschaftsfachmann nicht nur ein Individuum ist, sondern Seiten einer ganzen (unserer) Generation vertritt, eine verlorene Generation – eine gute, eine tragfähige szenische Idee. Falk Richter als Regisseur hat nicht nur ein glänzendes Ensemble, das fast fehlerlos die riesigen Textgebirge meistert, ihm steht auch eine Bühnenbildnerin, Katrin Hoffmann, zu Seite, die die vielen Ortswechsel mühelos schafft, einmal mit einem minimalistischen Aufbau von vier Projektionsflächen auskommt, dann wieder üppig mit Gemälden und Brücken die Zuschauer verwöhnt. Die Projektionsflächen sind wichtig,  Sébastian Dupouey projiziert eine Fülle von Videos, die die Handlung begleiten und kommentieren, historisch vertiefen und satirisch verzerren. Reizüberflutung ist ein Hauptthema von Falk Richter, als Regisseur wie als Dramatiker, und Reizüberflutung prägt (auch) diese (Ur)Aufführung.

Falk Richter – Dramatiker und Regisseur

Sie ist eine gute Ergänzung zum Roman, ästhetisch ein Zugewinn.

Ulrich Fischer

Nächste Aufführung am 10., 21. und 22. 9.; 23. und 25. 10.;16. und 21. 11. Spieldauer: 2  Stunden 40 Min.    

Michel Houellebecq: Serotonin. Roman. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Köln 2019, DuMont. 335 S., 24,00 €.