Übersichtlich unübersichtlich

Eine anspruchsvolle Zumutung: Hilary Mantels „Spiegel und Licht“

Der Druck auf Hilary Mantel dürfte enorm gewesen sein. Schon für den ersten Band ihrer Tudor-Trilogie („Wölfe“) hatte die englisch Autorin (* 1952) den Booker-Preis bekommen, dann auch noch für den zweiten,

Hilary Mantel

den mittleren Band („Falken“) – eine solche Doppelung ist eine absolute Ausnahme. Würde sie es schaffen, ihre Trilogie zu vollenden? Würde sie das Niveau halten können? Das Lesepublikum wartete und der Verlag dürfte gedrängt haben. Im Dank am Ende von „Spiegel und Licht“, dem jetzt erschienen letzten Band, spricht die Autorin von zehn Arbeitsjahren, seit dem Erscheinen  des letzten Bandes sind sieben/acht vergangen – eine lange Zeit.

Der Leser erfasst diese Zeitspanne mit dem ersten Blick: „Spiegel und Licht“ ist ein Ziegelstein, fast elfhundert Seiten auf Deutsch.

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Hilary Mantel beschreibt die letzten Jahre von Thomas Cromwell von 1536 bis 1540. Das England Heinrich VIII. Das Europa Karls V. Die (nicht nur) theologischen Auseinandersetzungen zwischen den Katholiken und diversen Zweigen der Protestanten.

Ein Gravitationszentrum im Roman bilden drei Ehen des englischen Königs. Wenn der Roman mit der Hinrichtung Cromwells endet, so beginnt er mit der Hinrichtung Anne Boleyns. Hinrichtungen sind eine Stärke Hilary Mantels. Den Rahmen hat sie treffend gewählt. Wo es um das rechte Verständnis der Lehre des milden Jesus geht, geht es um die Macht der Deutungshoheit: Wer ist loyal, wer Verräter? Wer glaubt recht, wer ist ein Ketzer? Thomas Cromwell weiß das und weiß sich, besser als die meisten seiner Zeitgenossen, dieser Mittel zu bedienen.

Er stammt aus kleinen Verhältnissen –   je höher er steigt, desto öfter werfen ihm das seine Konkurrenten vor. Ein Junge aus dem verachteten Volk als Berater des Königs, da knurren die Herzöge und die Bischöfe wundern sich.

Thomas Cromwell

Um Heinrich ein königliches Leben zu finanzieren, Prunk & Pracht, die Aufrüstung nicht zu vergessen, enteignet Cromwell für den König  Klöster. Deren Reichtümer, die fromme Mönche als Erbe des armen Jesus an sich gerissen haben, dienen dem König und seinen Leuten, aber auch Cromwell selbst, der zum schwerreichen Mann aufsteigt.

Der König ist von Feinden umgeben: Der Papst droht ihn zu exkommunizieren, Kaiser Karl könnte sich mit dem französischen König zusammentun, im Norden lauert der schottische König auf seine Chance. Rivalen im Inneren darf er nicht aus dem Auge lassen.

Eine Fülle von Themen, dazu noch die Küche: Cromwell ist ein Feinschmecker und diniert geradezu fürstlich mit dem Botschafter des Kaisers, während sie ausgewählte Rezepte und Boshaftigkeiten über ihre Souveräne – „Master“ – austauschen; dazu noch die Kleidung: Farbenrausch, Stoffe, deren Namen längst vergessen waren; Juwelen. Pferde, Rüstungen. (Die kommende Verfilmung ist mitgedacht und -konzipiert.)

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Und ein gewichtiger Strang: Die Potenz des Königs. Eine private Angelegenheit? Wohl, aber gleichzeitig auch hochpolitisch. Der König muss einen Kronprinzen zeugen. Muss! Hilary Mantel legt nahe, dass dieses Muss das königliche Glied erschlaffen lässt. Als kein Prinz kommt, bekommt anfangs Cromwell den Auftrag, die Königin aus dem Weg schaffen. Die Prozesse gegen die Höflinge, mit denen die Königin geschlafen haben soll, sind vergnügliche und haarsträubende Lektüre. Hilary Mantel lässt durchblicken, dass niemand weiß, was davon FakeNews, was wahr ist. Wichtig für den König ist nur, dass es einen stichhaltigen Grund gibt, die Königin zu enthaupten, Platz zu machen für die nächste.

Heinrich VIII.

Auch   bei der klappt es nicht. Und die übernächste gefällt dem König nicht. Er kann die Ehe nicht vollziehen, aber das darf niemand wissen. Ein König, der keinen hoch kriegt! Heinrich kann einem leidtun – Hilary Mantel entwirft ein glaubhafte  Skizze der Impotenz. Sie ist Feministin, eine scharfsinnige; sie   macht unschwer glaubhaft, dass das Amt des Königs jeden überfordert – Impotenz ist ein treffendes Bild. Als Cromwell dem König die ungeliebte Frau aus Deutschland nicht aus dem Bett und vom Hals schafft, muss er selbst dran glauben.

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Neben diesen historisch plausiblen Handlungslinien, die Hilary Mantel zum Hauptstrang ihres Romans verflicht – ein dicker Zopf – treten über hundert Gestalten auf. Sage und schreibe sechs Seiten umfasst das Figurenverzeichnis – ein gute Hilfe, für Leute, die bei der Lektüre immer mal wieder stranden.  Dankbar wäre der Leser auch für eine – leider fehlende – Karte für all die Orte, zu denen Cromwell reist, mitunter allein, oft an der Seite des Königs.

Das ist alles zu viel.(Gequält geschrien)  Zuu viel!

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Manchmal keimt ein Verdacht auf. Hilary Mantel hatte die Faxen dicke. Sie hatte so viel Material gesammelt, dass sie kaum noch ihren Schreibtisch im Arbeitszimmer fand, ihr Computer war schon dreimal explodiert. Als dann ihr lieber Verleger anrief und mahnte, platzte ihr der Kragen. Sie machte zu.

Sie schloss, so mein Verdacht, den Roman ab, bevor sie ihn ein letztes Mal durcharbeitete und energisch verschlankte. Das können jetzt die Leser selber machen.

Aber es könnte auch ganz anders gewesen sein: die Fülle der notierten Figuren & Fakten, Eindrücke, Phantasien und Träume erzeugen Unübersichtlichkeit.   Unübersichtlich ist nicht nur der Roman, sondern auch die Tudorzeit, vier Jahre im 16. Jahrhundert. Unübersichtlich ist es auch heute. Wenn die Leserin hofft, dass die Autorin einen Weg durch das Dickicht schlägt, so mag sich Hilary Mantel gesagt haben, hat sie sich geschnitten. Sie soll es selbst tun – wie sie es tun muss im Alltag, im 21. Jahrhundert, um sich zu orientieren.

Die Schilderung der englischen Konflikte um 1540 sind  witzig, weil in ihnen   unserer Zeit durscheint. (Heinrich will weg vom Kaiser, Brexit avant la lettre).Viel hat sich nicht geändert: „… das Gesetz ist kein Instrument um die Wahrheit zu finden. Es ist dazu da, eine Fiktion zu schaffen, die uns hilft, abscheuliche Taten hinter uns zu lassen und in die Zukunft zu sehen. Es scheint in dieser Welt keine Gnade zu geben, nur eine willkürliche Gerechtigkeit: Männer bezahlen für Verbrechen, aber nicht notwendigerweise für die eigenen.“ (S. 1046) Das ist so eine   überzeitliche Quintessenz, die auch für das dem Roman zugrunde liegende Gesetz gelten kann. Auch immer wieder eingestreute Gedichte gelten damals wie heute:

"Ich bin, wie ich bin, und werde so sein,
Doch wie ich bin, weiß niemand so recht ..."

Die Gedichte, die den Kahn des Romans noch weiter befrachten, sind ähnlich anfechtbar wie die Lyrismen, zu denen Hilary Mantel immer wieder neigt. Die wirken öfter verstiegen als gelungen. Ob sie heimlich davon träumt, eine Dichterin zu sein?

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Durchhaltevermögen braucht, wer den Roman von Anfang bis Ende lesen will – wobei die fast makellose Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence hilft (ich bin nur einmal über einen fehlerhaften Imperativ gestolpert, „empfehle“, statt „empfiel!“). Dabei wird das geforderte Durchhaltevermögen gleichzeitig durch die Lektüre gestärkt.

Die Vermutung, dass Hilary Mantel die Orientierungslosigkeit bewusst als poetisches Prinzip gewählt hat, wird gestützt durch den Romanschluss. Der ist straff, stringent durchgeschrieben: „Spiegel“ heißt der Teil, in dem Cromwell im Kerker, den Tod vor Augen, sein Leben Revue passieren lässt, „Licht“ der Weg zum Schafott und der tödliche Streich. Kein Wort zu viel. All das Kunstfett wegtrainiert, das sonst den Romankörper behäbig, mitunter gar schwerfällig werden lässt.

Erkenntniszuwachs & Bewusstseinsveränderung sind der Gewinn der Lektüre. Und immer wieder, nach den Mühen der Faktenberge Leselust, Scharfsinn und Humor der weltbekannten und heißgeliebten grünen englischen Literatur-Ebenen. Hilary Mantel sollte auf jeden Fall einen dritten Booker-Preis für „Spiegel und Licht“ erhalten.

Aber sie gehört nicht nur zu den lebenden Spitzenepikerinnen der englischsprechenden Welt, sie gehört zur Weltklasse. Wer könnte ihr im deutschsprachigen Raum das Wasser reichen? Vielleicht Elfriede Jelinek.

Und die hat ja schon den Nobelpreis. Das wäre ein guter Abschluss für diese Trilogie.

Und eine verdiente Krönung für Hilary Mantel.

                                                                                              Ulrich Fischer

Hilary Mantel: Spiegel und Licht. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.  DuMont 2020, 1097 S., gebunden 32,00 €. Kindle 25,99€. MP3-CD: 30.00 €