Starkes Stück

Feuchte Phantasien: Sivan Ben Yishais „LIEBE/ Eine argumentative Übung“

IM FIKTIVEN RAUM.  Die „stücke“ in Mülheim sind ein rot notiertes Datum im Kalender der Schauspielfreunde. An der Ruhr versammelt eine Jury die wichtigsten „stücke“, die im letzten Jahr uraufgeführt worden sind, um den „Dramatiker (oder die Dramatikerin) des Jahres“ zu wählen. Es soll also um Stücke und StückeschreiberInnen gehen, nicht im Inszenierungen und Regisseure (wie beim Berliner Theatertreffen).

Ein Schwachpunkt des Wettbewerbs, der unter der Leitung von  Stephanie Steinberg in den letzten Jahren immer mehr an Ausstrahlung verloren hat, war und ist, dass das Publikum die Stücke nicht liest, sondern Inszenierungen sieht. Regisseure stellten sich zwischen AutorIn und Zuschauer – und verfälschten häufig den Eindruck. (Wenn ich an eine Handke-Aufführung [Untertagblues. Ein Stationendrama, 2005 in MH] denke, ärgere ich mich noch heute).

Die Jury hat ihre Arbeit getan, acht Stücke (aus über 110) ausgewählt, aber sie können nicht aufgeführt werden – Corona! Warum das nicht als Chance begreifen? Jeder kann die Stücke lesen (bleibt zu Hause, verschmutzt keine Umwelt) und sich ein Urteil bilden, unverfälscht von Regisseursinterpretationen. Der Nachteil, dass man die Bühnentauglichkeit des Stücks schwer einschätzen kann, wird mehr als aufgewogen durch den Vorteil, dass blasse Regisseure mit ihrer unmaßgeblichen Meinung die Stücke belasten und um schlimmsten Fall in ihr Gegenteil verkehren (können).

Deshalb hab ich mir vorgenommen, die Stücke zu lesen und Ihnen vorzustellen. Meine Bitte an den „stücke“-Wettbewerb, die Stücktexte ins Internet zu stellen, damit Interessiertinnen sie mit einem Klick abrufen können.

*

„Nachts bricht die Frau aus der winzigen Wohnung aus. (…) ihre Vulva: grauschwarz, geschwollen; ihre Klitoris: erigiert, und jeden Mann, den sie sieht, fickt sie, jeden Mann, egal welchen, egal wo, auf der Straße, auf einem leeren Spielplatz …“ – Das ist nicht der Traum eines Großinquisitors über die diabolische Natur des Weibes, sondern die feuchte Phantasie von  Sivan Ben Yishais Protagonistin in ihrem Stück „LIEBE“. Der Untertitel „Eine argumentative Übung“ ist treffend gewählt, die Autorin rückt dem Problem von sexueller Besessenheit/weiblich mit systematischer Sorgfalt auf den Pelz.

Foto: Max Zerrahn

Olivia Öl dürfte um die vierzig sein, sie hat mit ihren Romanen überschaubaren Erfolg und genießt zunächst das Zusammensein mit ihrem Gefährten, den sie Popeye nennt (nach der Comicfigur, der muskelstarke Seemann, der so gern Spinat isst). Die Handlung gewinnt an Fahrt, als die Zufriedenheit mit dem Verhältnis sich langsam zersetzt.

Zunächst hält Olivia dagegen. Die Ratschläge ihrer Mutter und Großmutter, die sie vor   männlichem Egoismus gewarnt haben, versucht sie (freilich vergeblich) hintan zu stellen – sie wähnt, eine Feministin von heute ziehe ihr Selbstbewusstsein aus sich selbst, nicht von einem Männchen. Der immense Witz des Stücks entfaltet sich schon hier, im ersten der zwei Akte. Sivan Ben Yishai konstruiert überzeugend einen unüberbrückbaren Gegensatz von weiblicher Natur und feministischem Anspruch.

Die Autorin steigert gekonnt, der Zorn von Olivia konzentriert sich darauf, dass sie ihren Mann mit Blowjobs beglückt, er aber nie ihr einen Cunnilingus anbietet – was nicht ganz wahr ist. Als er ihr vorschlägt, sie zu lecken, weist sie ihn ab. Sie meint, ihre „Möse“ stänke. Es wird immer schlimmer, Olivias Wunsch, einen ordentlichen Cunnilingus verpasst zu bekommen, Orgasmus/men inclusive, steigert sich zur Besessenheit und findet seinen Höhepunkt in dem (Alp?)Traum, aus dem am Beginn des Artikels zitiert wird.

FÜR den DramatikerInnenpreis spricht: Das Thema: der Gegensatz zwischen feministischem Ideal und weiblicher Natur – und die Durchführung, systematisch, klug gesteigert, humorvoll. Innovativ, was die Übernahme von Bezeichnungen aus der Sexualsphäre angeht: Was Wohlerzogene nicht sagen dürfen, wird hier nie diskreeeet beschwiegen. Haben Sie gedacht, als Sie eingangs das Zitat lasen: „Das darf nicht in meiner Zeitung stehen!“? – Genau dieses Verbot überschreitet Sivan Ben Yishai – und mit Lust. Erweiterung des Bewusstseins.

GEGEN den Dramatikerinnenpreis spricht: Die Form. Es ist eine Art Textteppich in der Mode von Elfriede Jelinek; Links steht nicht, wer spricht (z B.: „Marquis Posa“) und rechts sein Dialogpart: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ – die Rollenangabe fehlt völlig. Auch das Personenverzeichnis am Anfang. Es bleibt ganz dem Belieben des Regisseurs überlassen, wie viele Schauspieler er besetzt; wer welchen Text bekommt. Zu viel Platz für Regiewillkür.

Warum Sivan Ben Yishay auf jeden Fall der Preis verliehen werden sollte: wegen Kühnheit, mit der sie wagt, das gedruckte Wort um Unerlaubtes, Unterdrücktes zu erweitern; die Courage, die inneren, kontradiktorischen Widersprüche des Feminismus in seiner heutigen Ausprägung zu attackieren – nein, schlimmer: dem Gelächter preiszugeben. Sie hat Mut, ist klug, beherrscht ihr Handwerk bis zur Meisterinnenschaft. Der Schrecken alles Großinquisitoren – auch aller Großinquisitorinnen von  MeToo. – Stichwort: Erkenntniszuwachs.

                                                                                              Ulrich Fischer

Sivan Ben Yishai: LIEBE/Eine argumentative Übung – Deutsch von Maren Kames (makellos!) – Suhrkamp Theatertext – 02. 09. 2019

 Ein Link: https://www1.muelheim-ruhr.de/sites/www1.muelheim-ruhr.de/files/2020_stuecke_programmheft.pdf