Dem Tod von der Schippe gesprungen


Dreifacher Auto-Salto zwischen Assuan und Abu Simbel

Von Günther Hennecke 


Luxor/Assuan/Köln – Es war im April 1992. Ostern stand vor der Tür. Ägypten hatte uns gelockt. Nach Luxor, ins „Tal der Könige“. Die Luft zitterte bereits vor Hitze. Das Thermometer zeigte gnadenlose 40, manchmal sogar mehr Hitzegerade an. Aber die Luft war trocken.  Kairos Schätze hatten wir schon  bewundert, Ramses einen Besuch abgestattet. 

Die halbe Welt half bei der Rettung Abu Simbels

Nun, in Luxor fast „zuhause“, lockte Abu Simbel. Dieses ägyptische Wunderwerk, von Ramses II. im 13. Jahrhundert v. Chr. in die Nubische Wüste gezaubert, war durch einen finanziellen und wissenschaftlichen Kraftakt aus aller Welt erst vor gut einem Vierteljahrhundert vor dem Untergang gerettet worden. Der Assuan-Staudamm, der den Nil heute über viele Kilometer aufstaut, hätte Ramses‘ Doppeltempel für alle Zeiten im Wasser versinken lassen. Wäre die kulturelle Welt nicht dem UNESCO–Hilferuf gefolgt, dieses einmalige Denk-Mal zu retten. Und das „Wunder“, als das Ägyptens Staatspräsident Nasser 1971, bei der Einweihung des Staudamms die Rettung würdigte –„wenn Völker…für einen guten Zweck zusammenarbeiten“ –, war geschehen: Zwischen 1963 und 1968 wurden, in einem weltweit bewunderten Kraftakt, die bedrohten Tempel abgebaut – und 64 Meter höher, auf der Assuan-Hochebene, wieder aufgebaut. Baufirmen und Archäologen aus Ägypten und Schweden, Frankreich, Italien und Deutschland retteten das Weltkultur-Denkmal damit vor dem Untergang. 

240 Kilometer durch die Ägyptische Wüste 

Die Pyramiden von Gizeh, die Wunderbauten von Luxor und die Pharaonengräber im „Tal der Könige“– alles grandios. Aber Abu Simbel musste dabei sein. Davon konnten uns weder die Hitze noch die Entfernung abhalten: Immerhin waren es 240 Kilometer quer durch die Wüste von Assuan zum Tempel-Wunder. 

Immer wieder biblische SzenenSo ging’s, am 11. April, erst einmal mit dem Mietwagen nach Assuan. Auf der Terrasse des altehrwürdigen „Old Cataract Hotels“ zu sitzen, war schon reinstes Vergnügen. Auf dem Nil vor uns Segelboote, auf der anderen Seite ein „modernes“ Grabmal, das des Aga Khan. Eine Szene wie im Alten Testament. Wäre es nicht mitreißende Realität, man könnte an ein kunstvolles, fast kitschiges Bühnenbild denken. Ein Höhepunkt unserer Fahrt am Nil entlang, die immer wieder an biblische Szenen  erinnerte. Ein Traum. Dass einen Tag später daraus fast ein Albtraum geworden wäre, schien undenkbar. Aber auch vermeintlich Undenkbares kann Wirklichkeit werden. Doch davon später. 

Es war einmal: Tod auf dem Nil

Es war eine kurze Nacht im „New Cataract Hotel“. Gelegen unmittelbar neben dem Luxushotel im Kolonialstil von 1899, das nicht zuletzt durch Agatha Christies Krimi „Tod auf dem Nil“ und den Film mit Peter Ustinov als Hercule Poirot bekannt wurde. 

Kamel-Skelette am Wegesrand

Was tun bei erwarteten mehr als 40° und einer vor uns liegenden Strecke von 240 Kilometern? Früh aufstehen, früh an Ort und Stelle sein, um das Wunderwerk zu erleben, solange es noch erträglich schien. Es war 5.15 Uhr. Zur Linken ging bald die Sonne auf. Rechts Sand, links Wüste, dazwischen eine Asphaltstraße. An einigen Stellen war sie unterm Sand verschwunden. Kein anderes Fahrzeug war zu sehen, die Einsamkeit spürbar. Und als, nicht ohne Respekt erlebt und Schauer über den Rücken jagend, zahllose Kamel-Skelette am Straßenrand auftauchten, wurde klar, dass die Wege aus dem Sudan, aus dem Süden, ins gelobte Land Ägypten, nicht nur in der Antike ein lebensgefährliches Abenteuer waren.  Vielleicht war’s aber auch schon ein warnendes Zeichen für das, was uns selbst einige Stunden später drohte – und wir nur knapp überlebten. 

Per Aspera ad Astra – zum Wunderwerk

Es war immer noch früh, gerade mal 8.00 Uhr, als uns die Tempel empfingen. Trotzdem waren wir keineswegs allein und schon gar nicht die Ersten. Die waren wohl per Flugzeug eingeschwebt. Auch das war möglich. Aber zum Erlebnis Abu Simbel gehört es, so schien es uns, das Wunderwerk Ramses II. nach einer fast alttestamentarischen Wüsten-Durchquerung zu erleben. 

Fassade voller Grandezza

Umso überwältigender beherrschten die vier über 20 Meter hohen Kolossal-Figuren über der Tempelfassade schließlich unsere Sinne. Inmitten einer Landschaft, deren Trockenheit vom Wasser des aufgestauten Nils faszinierend kontrastiert wird. Von mitreißender Schönheit zeigte sich auch das Innere, die große Pfeilerhalle mit ebenso geheimnisvoll wie realistisch wirkenden Steinfiguren. Voller Grandezza, voller Selbstbewusstsein, ästhetisch überwältigend. 

Die Ewigkeit drohte 

Überwältigend war schließlich auch die Hitze des Tages. Es waren Hitzegrade jenseits der 40°. Ein kurzer Aufenthalt im Ort, ein Kaffee, ein kleines verspätetes Frühstück. Dann trieb es uns zurück. Zurück auf den 240 Kilometer langen „Heimweg“, nach Assuan. Er hätte leicht länger werden können, eine Ewigkeit lang, den Tod eingeschlossen. Müde waren wir, ich hatte Kopfschmerzen. Wie so oft in dieser Zeit. Seit meiner Kindheit. 

Von der Tücke tropischer Straßenränder

An diesem heißen Vormittag waren die Schmerzen so stark, dass Inge das Steuer des Fiats übernahm. Sie dürfte, nach der langen Hinfahrt und dem Tempelbesuch, auch nicht gerade besonders fit gewesen sein. Wer zudem weiß, dass Wüstenstraßen und afrikanische Pisten, und mögen sie noch so einladend sein, an den Rändern oft tückische Abbrüche aufweisen, ahnt was passieren kann, wenn man von der Spur abkommt und in eine Vertiefung gerät. Wieder „festen Boden“ unter die Räder zu kriegen, bedarf es Kraft, verbunden mit der Gefahr zu übersteuern – und dabei ins Schleudern zu geraten. 

„Wir können froh sein, dass wir noch leben“

So muss es dann auch passiert sein. Ich war  auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Michael, auf der Rückbank liegend, war ebenfalls eingeschlummert. Urplötzlich wurde ich aufgeschreckt – und fand mich, laut aufschreiend, in einer lebensbedrohenden Situation wieder. Der Wagen war auf den Schotterstreifen neben der wesentlich höher verlaufenden Asphaltpiste abgerutscht. Der Versuch, ihn durch abruptes Rumreißen des Steuers auf die Asphaltstraße zurückzubringen, brachte ihn wohl in ein unkontrollierbares Schleudern. Dabei flog er über die linke Straßenseite, überschlug sich mindestens dreimal – und landete auf einem steinigen Sandhügel neben der Straße. „Wir können froh sein, dass wir noch leben“, schrieb Michael in sein Tagebuch. Gottseidank war der Wagen auf den Rädern gelandet. Gleichwohl ein Haufen Schrott. „Zu einem Drittel zusammengestaucht, der Kofferraum war nur mit der Brechtstange aufzukriegen“, heißt es im Tagebuch weiter. 

High Noon im Wüstensand

Es war High Noon, 12.00 Uhr mittags in der nubischen Wüste. Raus aus dem Wagen, in sichere Distanz, war die Devise. In aller Eile rettete ich meine Super-8-Kamera. Sie bewahrte, wie sich erst viel später zeigte, noch eine große, bis heute nicht erklärbare Überraschung. Doch wir lebten. Sorgen bereitete allerdings, dass Inges Brustkorb starke Schmerzen bereitete und sie offenbar schlecht Luft bekam. War was gebrochen, hatte die Lunge Schaden genommen? Angst ging um, Lebensangst. Michael hatte, wie er im Tagebuch schreibt, „außer einer blutverschmierten Hand nur ein blaues Auge“. 

Von dämlich glotzenden Touristen

Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, ehe ein Touristenbus vorbei kam, stoppte und uns mit auf den Weg nach Assuan nahm. Dass sich die Emphatie der Touristen uns sichtbar schwer Verunglückten gegenüber als nur spärlich ausgeprägt erwies, während sich der ägyptische Fahrer und der Guide der nur neugierig Glotzenden rührend um uns sorgten, unvergessen bleibt. 

24-Stunden-Überwachung im Krankenhaus

Es waren immerhin noch über 100 Kilometer bis zum Ziel, während der wir um die Gesundheit Inges bangten. Schließlich aber konnten wir aufatmen. Im erst seit einigen Jahren in Assuan beheimateten Evangelischen Krankenhaus unter deutscher Leitung konnte nach einer Röntgen-Untersuchung Entwarnung gegeben werden: Nichts war gebrochen, die Lunge offenbar unverletzt. Doch Michael und sie blieben zu einer 24-Stunden-Überwachung in der Klinik. Er wegen Verdacht auf Gehirnerschütterung, sie zur endgültigen Klärung und Entwarnung. „Das reicht, denn den 12. April werde ich sowieso nicht vergessen“, endet der Eintrag in Michaels Tagebuch. 

Blutstau hätte alles ändern können 

Ich selbst wurde als „gesund“ ins Hotel entlassen. An den kommenden Tagen zeigte sich freilich, dass mein Bein offenbar, mehr als ursprünglich vermutet, gelitten hatte: Es schwoll stark an. Und wenig später erfuhr ich, zurück am Rhein, dass die Situation für mich ganz und gar nicht so harmlos gewesen war. Ein Blutstau hätte so manches bewirken können. Nicht gerade Gutes! 

Saltos in der Wüste – Erdbeben im Rheinland 

Dass in dieser Nacht, vom 12. auf den 13. April 1992, im Rheinland das stärkste Erdbeben seit 1756, als die Erde der ganzen Region aufbegehrte, die Menschen aufgeschreckt hatte, wussten wir natürlich nicht. Auf 5,9 hatte es die Richterskala hochgejagt. 

#Telefonische Missverständnisse 

Dass man im Rheinland wiederum nichts von unserem Unfall wusste, war freilich noch klarer. Aber der zeitliche Zusammenhang der beiden Ereignisse führte zwischen mir und meiner Mutter im fernen Düsseldorf zu einem familienhistorisch bedeutsamen, aber köstlich missverständlichen Telefonat. Wollte ich ihr doch nur „schonend beibringen“, dass wir zwar einen schweren Unfall, aber alle überlebt hatten. Andererseits wollte sie mir wohl von ihrem nächtlichen „Abenteuer“ – es war um 3.20 Uhr in der Nacht zuvor geschehen – berichten. Ich berichtete auf nervschonenden Umwegen von einem Unfall, sie von einem nicht gerade alltäglichen Naturereignis. So redeten wir herzig aneinander vorbei. Es dauerte einige Zeit, ehe der Knoten platzte. Nach dem Motto: „Wovon redest du eigentlich? Ich wollte dir was Besonderes erzählen“. 

Späte Tränen nach glücklichem Überleben

Erst später wurde deutlich, wie sehr unsere Wüsten-Saltos, zunächst bei meiner Mutter im fernen Düsseldorf offenbar gar nicht so recht  angekommen, nachgewirkt hatten. Es war am Tag des Rückflugs, dem 17. April. In Düsseldorf gelandet, machten wir bei ihr Halt, ehe es weiterging nach Köln. „Bei Kaffee und Käsekuchen (lecker!)“, so Michaels Tagebuch, „unterhielten wir uns“. Auch über unseren Unfall und die „Neugeburt“, geht es doch im Text weiter, dass „Oma sich wegen unseres Unfalls wohl so sehr geängstigt hatte, dass sie Freudentränen weinte“. Viele Tage später. Erst da war wohl die Spannung geplatzt. 

Kleine Notlügen bei Assuans Polizeichef

Doch noch einmal kurz zurück ins Land der Pharaonen. Denn natürlich interessierte sich die Polizei für unsere Schicksals-Stunde in der Wüste. Was genau und wie passiert sei, wo wir den zerdepperten  Fiat zurückgelassen hätten. Als Schrotthaufen, sichtbar irreparabel. Gut, wir hatten eine Vollkasko-Versicherung. Aber griff die auch, wenn nicht ich, der eingetragene Mieter, sondern ein anderer, also meine Frau am Steuer gesessen hätte? Wir hatten tatsächlich für alle Fragen schlüssig wirkende Antworten abgesprochen. Kurz: Ich hatte natürlich am Steuer gesessen. Dazu müssten aber auch alle, selbst die kleinsten  Details passen. Wer etwa war an welcher Seite des Wagens ausgestiegen, wer benutzte welche Tür? 

Wimpel der Egypt Air wechselte den Besitzer 

Es gelang, die Geschichte logisch so zu verfälschen, dass sie glaubhaft war. Sie gelang sogar so gut, dass wir nicht nur, spürbar erleichtert, die Polizeidienststelle verlassen konnten. Michael, schon immer jeck auf alles, was mit Flugzeugen zu tun hatte, bekam nach unserer „Vernehmung“ vom Polizei-Chef Assuan einen Wimpel der Egypt Air geschenkt. Der hatte dessen Schreibtisch geziert. Nun war alles wirklich bestens, und wir konnten Assuan verlassen. Gesund und erleichtert. 

Mit dem Taxi zurück – durch Ägyptische Götterwelten

Um eine wichtige Erfahrung reicher, mieteten wir ein Taxi und machten uns auf den immerhin noch fast 250 Kilometer langen Weg zurück nach Luxor. Freilich nicht ohne auch auf dieser Rückfahrt noch eindrückliche Erlebnisse zu genießen. Der Kamelmarkt, der „Souk al Gimal“ von Daraw, beeindruckte durch alttestamentarisch anmutende Szenen. Und der Doppeltempel von Kom Ombo, immer noch 150 Kilometer von Luxor entfernt und direkt am rechten Ufer des Nils gelegen, ließ uns noch einmal in die uralte ägyptische Kultur-Geschichte eintauchen. Hier ist Sobek, der Gott mit dem Krokodilskopf, zu Hause. Neben ihm thront Haroeris, dessen grandioser Falkenkopf dem Sobeks kaum nachsteht. 

Verrückte Super-8-Kamera 

Am Abend des 14. April hatte uns das „Novotel“ in Luxor wieder. Noch am selben Abend, dem letzten unseres zweiwöchigen Ägypten-Abenteuers, kümmerte sich ein Fachmann um unsere Super-8-Kamera, die nach dem Unfall völlig „verrückt“ spielte. Wie einmal mehr Michaels Tagebuch festhält. Doch „verrückt“ war etwas völlig anderes, was bis heute keine Erklärung gefunden hat. Aber als Tatsache jederzeit nachprüfbar ist: Der 15 Meter lange Schmalfilm von Kodak, der natürlich auch unsere Wüstenreise nach Abu Simbel in zahlreichen Szenen festgehalten hatte und fantastische Bilder für uns bereithielt, war auf einer Länge von etwa einem Meter total schwarz. Und zwar offenbar genau zu der Zeit und in den Momenten, in denen uns unser Fiat mit mehrfachen Saltos in die Wüste katapultiert hatte. 

Eingriff der Götter

Wie auch immer. Die ägyptischen Götter müssen, durch den Sturz begünstigt oder gar als dessen „Verursacher“, die Kamera ausgelöst – und nach dem Unfall wieder abgestellt haben. Wie auch anders: Die Kamera war schließlich die ganze Zeit gut behütet in einer Foto-Tasche. Wie immer, wenn sie nicht benutzt wurde. 

Den Göttern sei Dank 

Während sich also ein Stück Zelluloid in der Kamera in Bewegung setzte, hatte unser aller Leben auf dem Spiel gestanden. Doch schwarz war nur der Film. Wir durften die Helligkeit des Daseins weiter genießen. Was Wunder, dass der 12. April alljährlich als Tag einer wundersamen „Wiedergeburt“ in das Geschichtsbuch derer von Hennecke eingraviert ist.