Theaterreise ins Unbekannte



Erinnerungen an eine historische Tournee des „Theaters an der Ruhr“ 2001 durch vier Staaten Zentralasiens


Von Günther Hennecke

Zentralasien/Mülheim/Köln – Eins war früh klar: Turkmenistan wird für uns Journalisten verschlossen bleiben. Wo käme man auch hin in einem diktatorisch geführten Staat, der für seinen  Präsidenten bereits ein mit echtem Gold überzogenes Standbild inmitten der Hauptstadt errichtet hatte, zwei deutschen und schon allein deswegen verdächtigen Journalisten die Einreise zu erlauben.
Die Schauspieler-Truppe, die wir begleiteten,  war gleichwohl willkommen! Das „Theater an der Ruhr“ war nämlich eingeladen, sein theatralisches Können zu zeigen. Doch wir, eine Kollegin und ich, auf dieser Reise durch (geplant) vier zentralasiatische Ex-Sowjet-Staaten als journalistische Begleiter und Reporter von Roberto Ciullis Truppe mit von der Partie, durften nicht.

Ashgabat blieb Terra Incognita

Das Ensemble desTheaters an der Ruhr 2001 vor dem „Auesov“Theater in Kasachstans Hauptstadt Almaty

Weshalb, fragt der geneigte Leser? Weil es einige Wochen vor dem Ciulli-Gastspiel mit Peter Handkes „Kaspar“ in der Hauptstadt Turkmenistans Ashgabat ein „bekanntes deutsches Nachrichtenmagazin“ gewagt hatte, den vergoldeten Diktator Nijasew Turkmenbashi, den selbsternannten  „Führer der Turkmenen“, in einen recht aufklärerischen, sprich: kritischen „Spiegel“ blicken zu lassen. Das muss den „Führer“ so verschreckt haben, dass er uns, die politisch eher zurückhaltenden, dafür feuilletonistisch interessierten Begleiter einer Theatertruppe aus Deutschland, in „spiegelnde“ Sippenhaft nahm. Kurzum, Ashgabat blieb für uns verschlossen, die Rückreise früher fällig als ursprünglich gedacht.

Grenzenlose Gastfreundschaft


Soweit, so schlecht. Aber hatten uns die Kirgisen in ihrer Hauptstadt Bischkek, die Kasachen in Almaty und die Usbeken in Taschkent nicht nur mit größter Herzlichkeit  empfangen, Ciullis Truppe umjubelt und auch uns – tatsächlich auch die Vertreter der Journaille – mit ihrer Gastfreundschaft geradezu überwältigt?
Dabei waren auch deren Führer alles andere als „lupenreine Demokraten“. Denn ob nun Islom Karimow in Usbekistans Hauptstadt Taschkent (1991 bis zu seinem  Tod 2016), Askar Akajew, Staatspräsident im Kirgisischen Bischkek von 1991 bis 2005, oder auch  Nursultan Nasarbajew, Präsident und „Führer der Nation“ von 1990 bis 2019 in Kasachstans Hauptstadt Almaty – auch sie herrschten wie einstige  Sowjet-Potentaten über ihr Land.

Er strahlt als Stern vom Himmel

Doch alle drei waren, im Vergleich zum „Führer der Turkmenen“, Waisenknaben. Denn der Mann im Palast in Ashgabad hat nicht nur einem Meteoriten seinen bescheidenen Namen aufgezwungen. Als „Stern“ am Himmel hatte er natürlich auch die Macht, den Monaten und Wochentagen neue Namen zu geben. Bei der Suche fielen ihm vor allem die Namen seiner Familie wie reife Früchte in den Schoß. Dass von diesem „Führer“ angeblich selbstverfasste Bücher Pflichtlektüre für seine Landsleute wurden – was ist daran noch überraschend?
Dass sich seine mit echtem Gold überzogene Statue in Ashgabad 24 Stunden lang um die eigene Achse dreht, um immer der Sonne zugewandt zu sein – das erlebten und erleben freilich nur wenige Herrscher der Erdgeschichte. Auch wir, zwei Journalisten aus Deutschland, mussten auf diesen Höhepunkt  verzichten.

Traumstädte aus 1001 Nacht

Samarkand, Buchara, Taschkent: Das klingt nach Ferne, lässt von Geschichten aus 1001 Nacht träumen. Städte, die auch heute noch einen fast mythischen Namen wiederaufleben lassen: den der „Seidenstraße“. Sie war über Jahrhunderte lang eine der Traumstraßen der Welt, wo sich Asien und Europa trafen, miteinander Handel trieben und das friedliche Miteinander verschiedener Kulturen eine faszinierende Blüte  erreichte.

Wiederbelebungsversuch eines Mythos

Roberto Ciulli wollte den alten Mythos wiederbeleben. Weg von der „Nationalisierung“ des kulturellen Lebens, wollte er mit seiner Truppe hin zu einer „internationalen Theater-Sprache“. Was lag da näher, als mit Peter Handkes „Kaspar“ auf die zentralasiatische Reise zu gehen, zumal Ciullis Inszenierung über weite Strecken ganz auf Sprache verzichtet. Es war die Bildkraft des Italieners aus dem deutschen Mülheim, mit der er die Menschen spürbar packte.

Goethe-Institute und Botschaften stets dabei


Die zweiwöchige Reise wäre freilich kaum möglich gewesen, hätte Ciulli nicht schon immer Verbindungen, ja Freundschaften mit Regisseuren und Schauspielerin aus Zentralasien angestrebt und gepflegt. Da konnten denn auch die „Goethe-Institute“ und Deutschen Botschaften nicht anders, als der Truppe von der Ruhr sowohl finanziell als auch  ideell unter die Arme zu greifen. So wurde Handkes Stück der Sprachlosigkeit zum vielbeachteten Theater–, Presse– und Fernseh-Ereignis, und sein Regisseur Ciulli zum vielfach gefragten „Botschafter“ eines Schauspiel-Stils, der „mehr sein will als bloßer Vermittler von Literatur“.

Bulat Atabajew als guter Geist der Tournee


Zum einzigartigen Vermittler und guten Geist zwischen den Welten, zum besten Botschafter, Begleiter und Übersetzer wurde in diesen zwei Wochen Kasachstans seinerzeit bedeutendster Theater-Regisseur Bulat Atabajew, Chef des „Auesov-Theaters“ in Almaty.

Roberto Ciulli und Kasachstans seinerzeit erfolgreichster Regisseur und Reisebegleiter Bulat Atabajew (links) bei einer Pressekonferenz in Bischkek
Werbung für Handkes „Kaspar“ über den Straßen Almatys

Der damals 49-jährige Künstler hat übrigens am 15. Juni 2012 am eigenen Leib erfahren, was Despotismus heißt: „Wegen Aufwiegelung zu sozialen Unruhen“ wurde er damals verhaftet. Er hatte für streikende Ölarbeiter Partei ergriffen. Einen Monat später war er wieder frei. Im selben Jahr wurde er in Weimar mit der „Goethe-Medaille“ ausgezeichnet. Die Laudatio hielt seinerzeit der Dramaturg Dr. Helmut Schäfer, gemeinsam mit Ciulli und dem mittlerweile verstorbenen Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben vor vier Jahrzehnten Gründer des Theaters an der Ruhr. Bulat Atabajew lebt übrigens heute in Köln.

Eine Gesellschaft verliert ihre Sprache


Zurück in den zentralasiatischen April des Jahres 2001. Es ging los vor über 600 Besuchern im „Maxim-Gorki-Theater“ in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. „Wieso gerade „Kaspar“, war eine der Fragen während der anschließenden Pressekonferenz. Weil das Stück „Sprache als Macht- und Unterdrückungsmittel“ zeigt, machte Ciulli  deutlich. Mit der „Konsequenz“, dass – zu erleben im zweiten Teil der Inszenierung – „eine morbide Gesellschaft ihre Sprache völlig verloren“ hat.

„Ein Kasache versteht alles – und schweigt“


In Atabajews eigenem Theater „Auesov“ in Kasachstans Hauptstadt purzelten drei Tage später die Komplimente nur so in den Raum. Aber auch die knappe, ebenso geheimnisvolle wie vielsagende Bemerkung eines Journalisten: hatte es in sich: „Ein Kasache versteht alles – und schweigt“. Die zentralasiatischen Staaten, aus der Zwangsjacke Sowjetunion ausgeschieden, suchten noch nach eigener Identität. Eben auch mit und auf dem Theater.

Kirgisische Theaterszenen für die Gäste

Bischkek, Kirgisistans Hauptstadt, brachte noch eine Steigerung. Das „Russische Dramentheater“ quoll geradezu über vor neugierigen Zuschauern. Als ebenso neugierig erwiesen sich die Gäste aus Deutschland, als ihnen sowohl das „Tungutsch-Theater“ als auch das „Kirgisische Dramentheater“ (mit „King Lear“) Sondervorstellungen boten. Einzigartig fremd war es, so die Erinnerung, aber dabei stets verständlich.

Menschliche Begegnungen und Mythos


Es waren freilich nicht nur Tage des Theaters. Es waren auch die menschlichen Begegnungen, die Neugier, das „sprachlose“ Miteinander, das diese Reise zum Erlebnis werden ließ. Den Mythos wieder zum Leben erwecken? Schwer genug. Aber ein bisschen Utopie darf doch sein.

Das Ensemble des “Tungutsch“-Theaters in Bischkek als großartiger Gastgeber


Dass es auch ganz private „Ausbrüche“ aus den Aufführungsterminen, Pressekonferenzen und Diskussionen gab, sei nur kurz angedeutet. Die sechsstündige Taxifahrt von Taschkent nach Samarkand und wieder zurück, vom frühen Morgen bis in den späten Abend, war so ein Abenteuer. Vier Schauspieler, ein Journalist – und ein „Zauberer“ am Steuer, der von Vorsicht im Straßenverkehr entweder nie etwas gehört hatte oder auf Allah vertraute. Diese Reise ist bis heute unvergessen. Schließlich haben wir sie sogar überlebt. Unvergesslich bleibt auch die Stadt, grandios, 1001-Nacht-würdig: Samarkand, ein  Traum, eingebettet in einen kleinen Taxi-Albtraum.

Auf den Spuren von Bundespräsident Herzog

Beeindruckend war auch ein theaterloser Tag in den Bergen Kirgisistans.

Kirgisen-Grill im zentralasiatischem Hochland

Die Besichtigung eines klassischen kirgisischen Zeltes, einer Jurte, beherrschte den Tag. Es war die Jurte des Präsidenten Akajew. Ein farbenprächtiger, fast luxuriöser Raum, der durch seinen Reichtum an Stoff-Details geradezu faszinierte.
Bei diesem Besuch schlich sich freilich noch eine ganz spezielle Erinnerung ins Spiel: Drei Jahre zuvor war das Zelt-Juwel Besuchs-Attraktion für den deutschen Bundespräsidenten. Der von Akajew als „großer Intellektueller“ und „bekannter Denker“ geradezu umschwärmte Roman Herzog, nach der Wende erstes westliches Staatsoberhaupt zu offiziellem Besuch in Kirgisistan, war an eben jenem Ort in den Rang eines „Aksakal“ erhoben worden – und hatte damit Anspruch auf den Ehrenplatz in Präsidenten-Zelt.
Soweit hat es die Ruhrtheater-Crew natürlich nicht gebracht. Aber den landesüblichen Filzhut, neben Hirtenpeitsche und einem kostbar bestickten Mantel, durften wir nicht nur ehrenhalber aufsetzen. Er sorgte später für nicht geringes Aufsehen im fernen Deutschland.

Fleisch schmort in riesiger Pfanne

Es war einfach, auch ohne Präsidenten-Begleitung, ein beeindruckender Tag, der wenig später an reich gedeckten Tischen in einem einsam gelegenen Haus endete. Theaterschauspieler aus Bischkek waren die mitreißend freundlichen und charmanten Gastgeber. Fleisch wurde in einer riesigen Pfanne mundgerecht gegrillt. Versehen mit nicht gerade den schwächsten Gewürzen, war es ein geradezu klassischer Kirgisen-Abend. Fernab der Hauptstadt, scheinbar sogar fernab der Welt.
Eine kleines privates Einsprengsel darf hier freilich auch nicht fehlen: Der Sohn des Autors dieser Reportage gehörte drei Jahre zuvor zum Kamerateam der Deutschen Welle, das Roman Herzog Anfang Februar 1998 auf seinem Staatsbesuch in Kirgisistan begleitete. So erlebten beide in nur kurzem zeitlichen Abstand  die Jurte im zentralasiatischen Hochland. Sicher kein alltägliches Erlebnis.

Verpasst – den Höhepunkt in Ashgabat

Zum Schluss noch ein Wort zu dem von uns Journalisten-Duo verpassten Gastspiel im turkmenischen Ashgabad. Es war, wie Roberto Ciulli sich später einmal äußerte, „der Höhepunkt der Reise“. Und das, wie er noch  hinzufügte, „völlig unerwartet“.
Dazu hat sich, soweit ich zu wissen glaube, das „bekannte Nachrichtenmagazin aus Hamburg“ bis heute nie vernehmen lassen.