Durchschnitt

Ulrich Khuon repräsentiert das deutsche Gegenwartstheater wie kein anderer

Am 31. Januar wird Ulrich Khuon siebzig. Er ist Intendant des Deutschen Theaters in Berlin, das dem Burgtheater in Wien ähnelt. Wenn es eine bundesdeutsche Staatsbühne gäbe, wäre die das Deutsche Theater. Khuon war auch bis Ende November 2020 Präsident des Deutschen Bühnenvereins, der Vereinigung der Arbeitgeber deutscher Bühnen, ein einflussreicher Verband. Darüber hinaus hat Khuon weitere Positionen inne, er ist gut vernetzt*. Bestens. Er hat seinen Aufstieg vermutlich zu einem großen Teil seinem beneidenswerten kommunikativen Geschick zu verdanken. Er wirkt nett. Petra Kohse kommentierte (in nachtkritik) die Pressekonferenz zum Neustart von Ulrich Khuon als Intendant am Deutschen Theater mit mildem Spott: „Es ist eine warmherzige, Vertrauen stiftende und sanft neugierig machende Veranstaltung, so wie alles, was Ulrich Khuon anpackt …“

Ulrich Khuon © Maria Sturm

Khuon legte seine beeindruckende Karriere früh an, schon als Schulbub, wie er sich erinnert: Er debütierte als Achtjähriger, stellte „den Christoph Kolumbus auf der Mehrzweckbühne des Hotels Schützen in Konstanz“ dar und erinnert sich an seinen schwäbischen Dialekt, der ihm den Spott seiner Mit-Pfadfinder eintrug. Doch „der Spieltrieb war geweckt“, später  verkörperte er Kreon im Schülertheater und fuhr auch als Student  in Freiburg fort, seiner Leidenschaft zu frönen. Bei aller (Selbst)Ironie der Schilderung nimmt Khuon doch gleichzeitig  auch – zu Recht – diese ersten Gehversuche wichtig auf dem Weg, der ihn zum Theater führte.

Ulrich Khuon hat viel geschrieben, aber kein Buch. Wer unter „Ulrich Khuon: Beruf Schauspieler“ sucht, findet ihn weniger als Autor, mehr als Herausgeber. Der Band versammelt Porträts von Darstellern, die den Gobert-Preis bekommen haben, – Khuon hat im Geleitwort  verschiedene Aspekte des Schauspielerberufs beschrieben und nähert sich dem Thema „Beruf: Schauspieler“  am überzeugendsten, wenn er Goethe zitiert. Wilhelm Meister ist ernüchtert, „wie völlig diese Menschen (gemeint sind Schauspieler – U.F.) mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihre Geschäfte ohne Nachdenken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff. Nicht allein will jeder der erste, sondern auch der einzige sein, jeder möchte gerne alle übrigen ausschließen und sieht nicht, dass er mit ihnen zusammen kaum etwas leistet. (…) Mit welcher Heftigkeit wirken sie gegeneinander! Und nur die kleinlichste Eigenliebe, der beschränkteste Eigennutz macht, dass sie sich miteinander verbinden.“ Khuon ergänzt, dass Wilhelms Gegenüber ihn lachend mit der Erinnerung unterbricht, dass er soeben nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben habe.

Gerade dieses Goethezitat Khuons ist bezeichnend. Es verteidigt Goethes eigene Haltung als Theaterintendant und -despot – und Khuon nutzt den Glorienschein des Olympiers, um seine Intendantenstellung  zweihundert Jahre später zu rechtfertigen. Es geht nicht anders, sonst gäb es Chaos. Die Schauspieler sind wie Kinder – wie oft haben so Despoten geurteilt, auch mindere, die nicht den Rang Khuons für sich beanspruchen können. – Es hat Versuche zur Mitbestimmung, zur Emanzipation gegeben – alle seien gescheitert, behaupten sie. Frankfurt! Berlin: Peter Stein, seine Spieler*innen, das ganze Schaubühnenensemble. Dabei erzählen sie andererseits immer wieder gern von frühen Theatererfahrungen in und mit der Schaubühne: „Wie es euch gefällt“ und die „Orestie“ – wie dann ihre Augen leuchten!

„Das geht nicht, Pina! Sie können nicht einfach die Ballettschuhe wegwerfen. 200 Jahre Tradition über den Haufen … Die Leute werden ihnen aus der Vorstellung laufen. Türenknallend!“ – „Nehme Sie Vernunft an, Pina! Von Wuppertal aus kann niemand die Welt des Tanzes revolutionieren!“ – Pina hat nicht gehört. Und damit ist sie gescheitert. Nie hat sie Weltruhm erreicht. Unbekannt ist sie in die Grube gesunken und die glänzenden Bedenkenträger haben gewonnen! Wie die CDU! Aus Wind kann man keinen Strom machen! Und aus Sonne erst recht nicht!! Wie stellen Sie sich das vor? – Der Bischof hat dem Schneider von Ulm verboten, vom Turm zu springen. „Der Mensch kann nicht fliegen!“ – so erzählt es Bertolt Brecht.

Dieses Talent, das Ulrich Khuon hat. Diese kommunikative Potenz, diese Geschmeidigkeit. Und dann stellt er sie in den Dienst des Bestehenden, anstatt aufzubrechen, mehr zu wagen, dieses gebrechliche, verkalkte&verknöcherte Intendantensystem, das historisch und systematisch zum Duodezfürstentum gehört, noch einmal zu retten – nicht nur als Intendant, sondern auch als Präsident des Deutschen Bühnenvereins – das ist mittelmäßig, Durchschnitt. Gegenüber   kühnen Aufbrüchen, beispielsweise von Pina Bausch, die gegen jede Wahrscheinlichkeit erfolgreich waren und so vielen begeisterten Zuschauer*innen Erkenntniszuwachs, Bewusstseinswandel, neue Horizonte bescherten.

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Ulrich, nicht Pina

Ulrich Khuon, am 31. Januar 1951 in Stuttgart geboren, studierte nach dem Abitur nicht nur die Rechte, sondern auch Germanistik und  Theologie mit durchaus heißem Bemüh’n. In einem Interview mit Hildegard Mathies,   in einem Katholiken nahestehenden Blättchen veröffentlicht, bekannte er sich zum Katholizismus. Khuon hat u. a. bei Karl Lehmann studiert. Khuons Kernaussage: „Der Impuls, Kunst zu machen, ist im Grunde derselbe, als wenn ich Religionslehrer oder Priester geworden wäre. –  Das Theater muss ein Energiezentrum der Stadt sein… Schließlich bin ich auch ein Bürger der Stadt … . Es geht mir darum, dass wir uns vernetzen: Wie können wir mit der Kirche, der Volkshochschule und der Stadt gemeinsam tätig sein? Nicht konkurrenzhaft, sondern dialogisch. Wer miteinander redet, versteht sich besser. Es gibt überall ein Bedürfnis, aus der Isolation herauszukommen, da kann man Sinn stiften. Man muss in die Welt hinaus, eine Alternative gibt es nicht. Das gilt für das Theater und die Kirche.“

Das dem Interview beigefügte Bild illustriert Khuons Image-Strategien, die Bildunterschrift verdoppelt die Aussage für Begriffsstutzige:   „Bescheiden: Professor Ulrich Khuon ließ sich in der Schneiderei fotografieren, um Aufsehen zu vermeiden.“

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Im Blick zurück scheint der Aufstieg Ulrich Khuons unaufhaltsam, anders als der von Arturo Ui. Nach dem Auftritt als Schulbub und dem Abitur Studententheater während des Studiums in Freiburg. Ulrich schreibt auch Kritiken, nach dem erfolgreich abgeschlossenen Studium wird er Dramaturg in Konstanz, Chefdramaturg und schließlich dortselbst Intendant.

Der Sprung nach Hannover, danach nach Hamburg ans Thalia gelang – nicht wegen spektakulärer künstlerischer Erfolge, mehr ruhte Khuons Ruf auf solidem Handwerk. Politiker wünschen sich eine Bude, die ruhig ist, billig und repräsentativ. Da hat Ulrich Khuon eigentlich selten gestört, die Kritik auf der Bühne war verhalten – nie lautstark wie bei Frank Castorf oder schwer überhörbar wie bei Thomas Ostermeier. 

Dea Loher und der Förderer der Jugend

Khuons künstlerisches Profil zeichnet sich durch seine Engagement für die Jugend aus. Schon früh förderte er Dea Loher. Sie umriss ihre Intentionen in ihrer Rede zur Verleihung des Gerrit-Engelke-Preises (in Hannover am 17. 2. 1998):  „… mir geht es … um eine Kunst, die in einem gesellschaftlichen Kontext entsteht, in dem es nicht unmittelbar etwas anzuklagen gilt oder aber in dem die dem Kunstwerk innewohnende Kritik verpufft, gar nicht mehr wahrgenommen wird, in dem die Kunst also vielmehr gegen ihre Wirkungslosigkeit und Ohnmacht ankämpfen muß, weil selbst ihre subtilste Subversivität von den Strukturen einer vermeintlich demokratischen Kunstmarktwirtschaft vereinnahmt wird, und die sich deshalb gezwungen glaubt, z . B. nach immer neuen ‚Tabus‘ zu suchen oder solche zu ernennen, um Aufmerksamkeit durch deren Zerschlagung zu gewinnen.“

Diese Zurückhaltung kommt  Khuons künstlerischer Neigung entgegen. Dea Loher ist wohl seine Lieblingsdramatikerin, er sorgte immer wieder für die Uraufführung ihrer Stücke, wählte mit Sorgfalt die Ensembles aus.

Aber auch sonst kümmerte sich Khuon um die Jugend: Er hat „Autorentage“ eingerichtet, schon in Hannover. „Warum sollte sich das Theater verbünden mit seinen Autoren?“ – fragte Khuon in einem umfassenden Aufsatz – und antwortete: „Eine groteske Frage. Müsste es nicht umgekehrt heißen: Wie kann das Theater überhaupt leben ohne seine Autoren? Ich kenne kein Metier, das es sich leistet, auf Entwicklungsmöglichkeiten im Kernbereich zu verzichten. Da mag nun mancher einwenden, die eigentlichen Autoren seien heute die Regisseure, und es gibt einige gute Beispiele für diese These. Aber auch die besten Regisseure sind nicht unerschöpflich, sie brauchen schließlich das Spannungsfeld zwischen eigener Phantasie, Ensemble und Stück. Es muss den Theatern also darum gehen, zwischen diesen Polen Verbindungen zu stiften. Warum geschieht das so selten, wenn es doch auf der Hand liegt? Vermutlich scheuen viele Theater davor zurück, weil sie in einem Gestrüpp von Anforderungen und Überlebenskämpfen zwischen Kulturpolitik und Wirtschaftlichkeitsgutachten, Ensemble und Regisseuren, Kritikern und Publikum hektisch abmühen und schlichtweg Angst davor haben, noch eine weitere komplizierte, empfindsame und nicht immer publikumsträchtige Kraft an sich zu binden. Lieber wartet man ab, bis sich der eine oder andere zum modernen Klassiker gemausert hat und spielt ihn dann vorsichtig dosiert, ensemble- und publikumsverträglich nach. „

Khuon beschreibt zutreffend die Lage, insbesondere was das Zögern seiner Kollegen angeht, doch ist seine Analyse unvollständig. Junge Leute, Anfänger, sind billig – und eine Attraktion, weil man ein junges Publikum interessieren und an sich binden kann;  die Presse wird aufmerksam, Khuon kann sich als Förderer profilieren. Gleichzeitig gab (&gibt) gibt er seinem jungen Haus-, Leib- und Magenregisseur Kriegenburg mit Dea Loher eine Partnerin, Uraufführungen, mit denen er dezent auch sich aufmerksam machen kann. Eine Traumkonstellation. Ulrich Khuon hat seinen Aufstieg nicht zuletzt jungen Leuten zu verdanken, die ihm ihre Kreativität geliehen haben und denen er zu Kontur und Podium verholfen hat. Do ut des. – Tatsächlich äußert Dea Loher, die sich gern als Kratzbürste gibt, in einem Interview über ihren Förderer: „Uli Khuon ist so mutig, Aufträge zu vergeben und mit so einer Uraufführung auf der großen Bühne die Spielzeit zu eröffnen. Das könnten andere Intendanten ganz leicht nachmachen, sie tun’s aber nicht.“ (S. 21)

Wobei Dea Loher es gut hatte – ihre Stücke wurden mit der gebotenen Sorgfalt inszeniert, während andere Autoren bei den „Autorentagen“ verhackstückt wurden – im allgemeinen am Ende der Spielzeit.

Die „Autorentage“ waren keine Autorentage. Die Autoren waren Opfer der Herren – obenan Ulrich Khuon, der Wohltäter, der jungen Leuten, teilweise DebütantInnen, eine Chance gab. Dann das Auswahlgremium, dabei an wichtiger Funktionsstelle aus der Dramaturgie John von Düffel, der geistige Vater der Autorentage, der als junger Dramatiker selbst Möglichkeiten gesucht hatte, seine Stücke auf Theatern auszuprobieren. Denn nicht alle Stücke konnten gezeigt werden, es kamen zu viele, und, dem Vernehmen nach – nicht alle bühnentauglich oder -reif. Und nun wurden diese Stücke nur aninszeniert, vieleicht zehn Tage lang, und dann, im Rohzustand, dem Publikum gezeigt. Was selbst Meisterwerke beschädigt hätte, war der Garaus für viele erste Texte. Sie kamen schlicht unverständlich über die Rampe, zumal, da sich junge Regisseure versuchten, auf Kosten der armen Dramatiker zu profilieren.

Gleichwohl nahm Khuon die Autorentage – immer wieder Anziehungspunkte, in den Medien beachtet – nach Hamburg und später Berlin mit.

Ulrich Khuon erschien immer mehr als engagierter Vertreter der Jugend, was Kulturpolitiker mit Interesse zur Kenntnis nahmen. Er konnte auch eine offene Flanke halbwegs decken, schlichtweg nicht der Frauenfeindschaft bezichtigt werden, denn er hatte ja seine Dea Loher. Sie war nicht „seine“ einzige Dramatikerin – aber mit Regisseurinnen sah es mau aus. Und der Chef blieb ein Mann.

Unter Druck

Ulrich Khuon stand lange, wie alle seine Kollegen, unter Druck. Neoliberale Finanzpolitiker zwangen Theater zu sparen. Das ging wie geschmiert bei den Personaletats – da die Normalverträge Solo die meisten Angriffsmöglichkeiten bieten, mussten Schauspieler den größten Teil der „Sparpolitik“ schultern und ertragen.

Gerne wüsste ich, ob auch Ulrich Khuon Einbußen hinnehmen musste, ob auch seine Gage vermindert wurde – aber ich weiß es nicht. Aus Bonn hörte man, dass die Willfährigkeit eines Intendanten mit einem schönen neuen Dienstwagen honoriert worden sein soll…

Ulrich Khuon ist nicht nur Literaturwissenschaftler und Theologe, er hat (als Jurist?) auch Sinn fürs Kaufmännische. Er sorgte dafür, dass die Theater voll waren, dass die Kasse klingelte, erfolgreich im Deutschen Theater, aber auch schon in Hannover und Hamburg (und Konstanz nicht minder).  Überraschend, dass auch das Thalia und das Deutsche Theater voll waren, denn Ulrich Khuon setzte aufs Regietheater. Die besondere Schwierigkeit, Inszenierungen (nicht nur) des Deutschen Theaters zu verstehen, ist die Verkettung zweier Deutungsebenen: der Fabel und deren Interpretation, des Stücks und seiner Inszenierung. Eine Voraussetzung, die besondere, je spezifische Deutung der Inszenierung zu begreifen ist, dass der ZuschauerIn die Fabel kennt – erst in der Abänderung der Fabel wird die Inszenierungsabsicht der RegisseurIn deutlich. Dann sollte noch diese komplexe ästhetische Aussage im Kontext der Realität, im Spannungsverhältnis zu ihr verstanden werden, um zu einer soliden(?) Basis für ein ästhetisches Urteil zu gelangen.

Wichtiger noch ist der Dogmatismus, mit dem Regietheater als die einzig legitime Form der Inszenierungen behauptet wird. Am treffendsten hat Daniel Kehlmann in seiner geistreichen Rede 2009 in Salzburg diese Praxis angegriffen, verspottet und (leider nicht) erledigt: „Als vor vier Jahren der Satiriker Joachim Lottmann im SPIEGEL einen spöttischen Artikel über deutsche Regiegebräuche veröffentlichte, ging eine Empörungswelle durch die Redaktionen, als schriebe man das Jahr 1910 und einer hätte Kaiser Wilhelm gekränkt. Es hat wohl mit der folgenreichsten Allianz der vergangenen Jahrzehnte zu tun: dem Bündnis zwischen Kitsch und Avantgarde. Nach wie vor und allezeit schätzt der Philister das Althergebrachte, aber mittlerweile muß sich dieses Althergebrachte auf eine strikt formelhafte Weise. als neu geben. Denn wer ein Reihenhaus bewohnen, christlich-konser- vative Parteien wählen, seine Kinder auf Privatschulen schicken und sich dennoch als aufgeschlossener Bohemien ohne Vorurteil fühlen möchte – was bleibt ihm denn anderes als das Theater? In einer Welt, in der niemand mehr Marx liest und kontroverse Diskussionen sich eigentlich nur noch um Sport drehen, ist das Regietheater zur letzten verbliebenen Sehrumpfform linker Ideologie degeneriert.“

Regietheater – ein Beispiel

Regietheater führt  zu Konflikten – zwischen dem Urheber, dem Dramatiker auf der einen, und dem Sekundärkünstler, dem Regisseur auf der anderen Seite, wobei sich das Mündel zum Vormund erklärt. Ein Beispiel: „In meinem Verständnis von Theater“, schreibt Ulrich Khuon, „gehe ich Wege mit, und ich gestalte sie auch mit. Ich halte mich nicht heraus, aber ich bringe beiden Seiten, Autor und Regie, einen Respekt entgegen. Dass es zu Verwerfungen kommen oder kompliziert werden kann, ist meiner Meinung nach Teil des Projekts. Wir machen ja nicht auf sicheren Wegen einen Spaziergang hinter einem Stück her, sondern wagen ein Abenteuer, eine Eroberung, die je nachdem großartig oder schrecklich, sehr schwierig oder sehr schön werden kann.“ – Tatsächlich hatte ein Regisseur, Sebastian Hartmann, ein neues Stück, „In Stanniolpapier“ von Björn SC Deigner,  im Rahmen der „Langen Nacht der Autoren“ inszeniert und den Text derart verkürzt, dass es zum Eklat  kam. Khuon moderierte den Konflikt, die Inszenierung wurde nicht mehr als „Uraufführung“ deklariert, der Text dem Programmheft beigelegt; die versprochene „Uraufführung“ fand nicht statt. Hier wurde deutlich, dass die „Lange Nacht der Autoren“ keine der Autoren ist, sondern eine der Regisseure. Khuon verleiht seinen Regisseuren die (seine Intendanten-) Macht,  die Texte zu bearbeiten, zu verändern, zur Unkenntlichkeit zu verhackstücken. In diesem Fall blieben vom Text nur Wörter übrig. Khuon möchte den Anschein erzeugen, er bringe „Autor und Regie“ gleichermaßen „Respekt“ entgegen. Das ist nicht der Fall. Vielmehr entscheidet der Regisseur – die Autoren dürfen nur das Futter bringen, sie sind, in Anlehnung an das Kanonenfutter im Krieg, Theaterfutter. Ihre Machtlosigkeit gleicht der der Soldaten, Entscheider sind die Generäle, im Khuon-Theater die Regisseure.

Der Interessenausgleich führt zur Enteignung: der Dichter gibt, dem Dichter wird genommen, der Regisseur erhält, bekommt, nimmt.

Der junge Dramatiker Bonn Park hat mal auf die Altvorderen geschimpft:  „Ich möchte nicht einer dieser abgehetzten, machtbewussten, verpanzerten Theaterfunktionäre werden. Es gibt im deutschen Theater so eine komische Gier nach Mittelmäßigkeit. Ich fühle mich manchmal wie im Treibsand der Relevanzlosigkeit.  Es fehlt der Mut, Dinge einfach volles Risiko auszuprobieren. Wenn neue Autoren auftauchen, werden die Stücke mit jungen Regisseuren zusammengewürfelt, weil der kleinste gemeinsame Nenner das Jungsein ist, und das doch funktionieren muss. Die Uraufführung wird in den Heizungskeller gesperrt und auf der großen Bühne bleibt alles wie immer.“

„Gier nach Mittelmäßigkeit“ – hier streift   Park eine Schwäche Khuons. Angreifbar wird es, wenn Ulrich Khuon in einem Einminuten-Facebook-Video für die Autorentage wirbt.  Er plädiert, abseits von „akademischem Interesse“ an der Gegenwartsliteratur, für „Spaß“ – der Funfaktor ist am wichtigsten und die Möglichkeit, die Künstler zu treffen und mit ihnen zu diskutieren. Das Video wirkt ein bisschen ranschmeisserisch, werben um den jungen Zuschauernachwuchs.  Khuon verschmäht auch nicht, mit „ganzheitlich“ zu werben. Reklame.

Faust

Bei Kollegen verhielt sich Khuon anders. Um andere Bühnen zu unterstützen, half Khuon beim „Faust“ mit, einem Theaterpreis, den   Theaterleute stifteten und   ihren Kollegen zusprachen, wohl damit in der Heimatzeitung stand, ‚unser‘ Theater hat ’nen Preis gekriegt; damit die Leute hinliefen und sich von der Qualität ihres Theaters überzeugten. Ein ebenso dreister wie durchsichtiger Schwindel, zu dem Khuon sich nicht hätte breitschlagen lassen dürfen. Als   ein hochgestellter Politiker mal verärgert die Preisverleihung verlassen hatte, weil auch die jede Niveaugrenze gutgelaunt unterschritt, verteidigte Khuon sogar diesen Missgriff im Bühnenblatt „Theater heute“.

Vielleicht war diese Robustheit und der verbindliche Ton, der eigentlich nur selten ans Salbungsvoll-Pfäffische erinnert, mit einer der Gründe, warum er zum Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins gewählt wurde. Dort engagierte er sich gegen die AfD. Er warnte:  Die „AfD greift deutsche Theater an“. Khuon fürchtet(e),  die Partei könne die Subventionen für Theater vermindern, wenn ihr politischer Einfluss stiege, und im Publikum könnten rechte Bürger Vorstellungen stören. Gerade hier erinnert Khuon an Erfahrungen mit Nationalsozialisten in der Weimarer Republik.   Er fürchtet Subventionsstreichungen „wenn sie (Theater) sich nicht so verhalten, wie das von der AfD gewünscht“ sei. „Das heißt eine ausschließlich nationale, nationalistische Kultur zu vertreten und auf der Bühne abzubilden.“ Wie könnten Theater der AfD Wähler abspenstig machen? Leitet Regietheater mit seiner elitären Komponente nicht geradezu Wasser auf die Mühlen der „Alternative“? Wie könnten Bühnen die Warnzeichen an der Wand produktiv machen – für Spielpläne und Inszenierungsstrategien? Wie aus dem kleinen Kreis der Kenner einen großen machen?  Ulrich Khuons Antworten stehen aus.

Deutschdeutsche Kabalen

Ein ebenso bedenkliches wie bedenkenswertes Licht wirft Christoph Hein auf Ulrich Khuon. In seinem Buch   Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege berichtet Hein, welche Machenschaften es gegeben hat, ihn als Intendanten des Deutschen Theaters, nachdem er vom Berliner Kultursenator berufen worden war, zu verhindern. Ein wichtiger Hebel war die Verringerung des Haushalts in der Vorbereitungsphase. Als Hein, entnervt, das Handtuch geworfen hatte, war das Geld auf einmal wieder da – für  Khuon, der berufen wurde und sein Amt auch antrat: Bei der Pressekonferenz zur Vertragsunterzeichnung teilte die Senatsverwaltung den Journalisten mit, das Deutsche Theater werde wie bisher subventioniert und habe keine Kürzungen zu befürchten. Hein betont, dass sein Nachfolger (also Khuon) nicht an der Intrige beteiligt war – dennoch:

Ein berechtigter und bis heute nicht ausgeräumter Punkt der Kritik ist, dass es nach der Wiedervereinigung zu viele Wessis in Spitzenpositionen von Ostinstituten gebracht haben, Ossis hintan stehen mussten. Wenn nun    Khuon, ein Wessi, einem Ossi,   Hein, den Rang abläuft beim Intendantenposten fürs Deutsche Theater, sind Fragezeichen an der Fairness Khuons, die so wichtig ist für sein Image, angebracht, ja geboten.  Er hätte zurückstehen sollen, ein Ossi hätte das Deutsche Theater übernehmen sollenmüssen.

Aber wer hätte diese Größe zu verzichten gehabt? Die Folgen sind absehbar.  In der Berliner Zeitung diskutierte Petra Kohse mit Khuon; dem Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins, Marc Grandmontagne; und der Schauspielerin Laura Kiehne über Gendergerechtigkeit, den neuen Verhaltenskodex und Solidarität an den Bühnen. Von einer Gagentabelle, die Untergrenzen für die Gehälter festlegt, wollen die beiden Arbeitgeber  nichts wissen: „Ulrich Khuon: Die Gagentabelle ist ein Problem.“ – Es geht darum, eine Transparenz der Gagen zu verhindern – warum wohl? Um die Machtfülle der Intendanten zu verteidigen. Divide et impera. Die Versprechen, mehr für Geschlechtergerechtigkeit zu tun, kommentiert – in anderem Zusammenhang – Till Briegleb. Er schrieb,  Sonja Anders, Hannovers neue Intendantin, könne „jetzt Dinge konkret ändern, über die woanders nur geredet wird. Ungleichbezahlung von Frauen und Männern am Theater zum Beispiel, ein Thema klassischer Kulturbigotterie, das männliche Intendanten mit traurigem Dackelblick gerne als dringend anerkennen und dann trotzdem nicht abstellen – seit Jahrzehnten wohlgemerkt.“

Pluspunkte

Eine Force des Deutschen Theaters ist das Ensemble. Corinna Harfouch ist vielleicht die bedeutendste Schauspielerin in Berlins Schumannstraße. Margit Bendokat … und und und. Bei der Wahl der Regisseure hatte Khuon indes keine glückliche Hand. Andreas Kriegenburg, mit dem er schon in Hannover und Hamburg   zusammenarbeitete, wird überschätzt.

Weithin unbeachtet die Dramaturgie. John von Düffel hat einen enormen Überblick über das Gegenwartsschaffen und fundierte Kenntnisse der Theatergeschichte, wie seine Bearbeitungen zeigen, die allerdings oft von anderen Bühnen gespielt werden. Aber es kam auch   zu geglückten Zusammenarbeiten – das beste Beispiel: die Trilogie  „Ödipus Stadt.“, uraufgeführt im Deutschen Theater am 31. 8. 2012. Sie umfasst „König Ödipus“ und „Antigone“  nach Sophokles, „Sieben gegen Theben“ nach Aischylos und „Die Phönizierinnen“ nach Euripides.

John von Düffel ist eine kristallklare Übersetzung geglückt. Die  uralte Geschichte wird als klassisches Erbe in edler Form präsentiert – und weitergetragen. Nachdem Griechisch kein wichtiges Fach in der Gymnasialerziehung mehr ist, seitdem die griechischen Dramen nur noch teilweise und bruchstückhaft Theaterfreunden bekannt sind, sie aus dem Bewusstsein der Gebildeten immer weiter schwinden, stemmt sich diese Trilogie gegen das Vergessen – erfolgreich. Sie erweitert und vertieft das Bewusstsein über Theben und die Radikalität, mit der die (alten) Griechen ihre Könige und die Herrschaft insgesamt der öffentlichen Kritik unterwarfen – aktuell, weil sie als beispielhaft für unsere Zeit dargestellt wird.

Das Drama ist kurz, Düffel hat das Narrativ auf das Notwendige gekürzt, die Chöre ganz weggelassen und so eine spielbare Fassung für einen Tag/Abend geschaffen – eine dramaturgische Meisterleitung, die den Vergleich mit Peter Steins „Orestie“ nicht zu scheuen braucht – wiewohl sie entgegengesetzte Prinzipen zur Grundlage wählt. Während Peter Stein auf Vollständigkeit setzt, streicht Düffel stark. Sollte die Forderung sich erheben, die Stücke ungekürzt zu spielen – wäre das sicher eine Konsequenz, die den Intentionen Düffels, so wie sie in seiner Bearbeitung zu Tage treten, nicht zuwider liefe.

Mit der Verknappung der Handlung geht   eine scharfe Konturierung der Figuren einher. Alle Herrscherfiguren – Ödipus, Eteokles und Kreon – sind verblendet. Keiner kann erfassen, dass sein Verhalten der Grund ist für den Götterfluch, der auf Theben lastet, bis es keine Ausflucht mehr gibt. Iokaste versucht als Gattin wie als Mutter zu vermitteln, Polyneikes ist ebenso machtgierig wie sein Bruder; die stärkste Figur ist ihre Schwester Antigone. Sie ist unschuldig, setzt sich für den Bruder und dessen Ehre noch nach dessen Tod ein und schlägt dafür ihr Leben in die Schanze. Theiresias, der Seher,  ist nach Antigone die fesselndste Figur – er durchschaut die Zusammenhänge und erklärt sie erst, nachdem die Herrscher ihn bedrängen. Er weiß, dass sie nicht wissen wollen, was wissen zu wollen sie vorgeben.

Die Theben-Trilogie ist geglückt, weit mehr als eine Nachhilfestunde für mangelhaft ausgebildete BildungsBürger des Abendlandes: Eine Perle im Repertoire jeden Stadt- und Staatstheaters. Doch die Berliner Kritik senkte hochnäsig  den Daumen. Regietheater-Arbeiten, weit weniger fundiert als Düffels Dramaturgentheater,  prägten stärker Khuons Spielpläne, bei weitem.

Corona und das Theater

Ulrich Khuon wurde zum Thema Pandemie und das Theater von 3Sat in seiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen Bühnenvereins interviewt: er wirkte souverän, ohne präsidial zu sein – und war scharfsinnig. Er stimmte am Ende des Gesprächs der Interviewerin zu, dass es den Theatern, den Staats- und Stadttheatern, den Landesbühnen gut gehe, weil sie 100% der Gagen auszahlen konnten/durften/mussten während der Spielunterbrechung – fügte dann aber, ungefragt, hinzu, dass die  Zukunft schwierig werden könnte, weil die Schulden der öffentlichen Hand ja ins Ungemessene stiegen – wo werde man dann sparen? Khuon hat einige Sparrunden hinter sich und weiß, wovon er redet.

Khuon sprach auch ein heikles Thema an: Künstler, die nicht an   privilegierten Bühnen ein Engagement haben, fallen ins Ungewisse hinab. Er sieht die Zweiteilung und warnt, man müsse hier darauf achten, dass es keine Kluft gebe – aber es gibt sie. Das ist Ulrich Khuons weiße Salbe. Er sieht die Konflikte, aber eilt darüber hinweg: Der Ritt über den Bodensee.

Hier zeigt sich eine Stärke: Ulrich Khuon ist kein Fachidiot, blickt über den Bühnenrand hinaus und versteht was von Politik, von öffentlichen Finanzen. Sein Auftritt, geradezu offensiv unelitär und uneitel, ordentlich, bürgerlich, kompetent, wohl unterrichtet, zeigt, dass er leicht Abgeordneter, Minister, Parteivorsitzender hätte werden und bleiben können. Erst jüngst regen sich allerdings Zweifel an seiner Nüchternheit, seinem Realitätssinn: In der Corona-Krise protestierte er als Präsident des Deutschen Bühnenvereins Ende Oktober 2020 in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gegen Theaterschließungen und versicherte Angela Merkel, dass Theater „bisher keinen Beitrag zum Anstieg der Infektionen geleistet haben. Theater, Opern- und Konzerthäuser sind erwiesenermaßen keine Infektionsorte.“ Peter Laudenbach fragt (in der SZ vom 23. Nov. 2020): „Woher will er das wissen …? Khuons Behauptung, Theaterbesuche seien ‚erwiesenermaßen‘ ohne Ansteckungsrisiken, geht recht großzügig mit einer nicht vorhandenen Datenbasis um …“. Überdies stellt Laudenbach Khuons These in Frage, „das Schließen dieser wichtigen öffentlichen Orte“ stifte „großen gesellschaftlichen Schaden“. Laudenbach spottet, Khuons Behauptung, Theater seien Begegnungsorte „die für die Gesellschaft eine unverzichtbare Bedeutung haben“  – angesichts „halb harmlose(r) halb mittelmäßige(r)“ Inszenierungen am Deutschen Theater: Wenn das stimmen würde, „dann hätte sie (die Gesellschaft) ein echtes Problem… Außerhalb der Theaterblase mutet solch pathetische Rhetorik nicht nur schwer nachvollziehbar an. Sie ist peinlich“, schlussfolgert Lautenbach. Die Glaubwürdigkeit gerät in Gefahr, die Klage erscheint als „Lamento“. Peter Lautenbach plädiert für Vernunft und Mäßigung, es gebe wichtigeres als Theater: „zum Beispiel den Schutz von Menschenleben.“

Trotz dieser Einschränkung, vielleicht ein Ausrutscher,  erscheint Ulrich Khuon als gemäßigt Konservativer – wie er es als Intendant und Präsident war und ist. Er verteidigte vor allem die Struktur unserer Bühnen, die Hierarchie, das Intendantentheater. Der tiefere Grund für die Mittelmäßigkeit! Sein Beharrungsvermögen war und ist ausgeprägt. Erinnern Sie sich noch an sein Goethezitat? Er glaubt, dass er es besser weiß und den Haufen im Theater bändigen muss. Soll. Und kann. Ganz wie Wilhelm, ganz wie Goethe.

Das ist alles gut und schön, mediocer. Kein großer Wurf.

Ulrich Khuon repräsentiert das deutsche Gegenwartstheater wie kein anderer.

                                                                                              Ulrich Fischer

* Khuon ist seit 1998 Jury-Mitglied des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises, seit 1999 gehörte er der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und dem Vorstand der Intendantengruppe im Deutschen Bühnenverein an und ist außerdem Mitglied in diversen Jurys zur Förderung des Schauspieler- und Regienachwuchses. Seit 2002 steht er dem Ausschuss für künstlerische Fragen im Deutschen Bühnenverein vor und amtierte von 2002 bis 2005 als Generalsekretär der Europäischen Theater Konvention (ETC). 2004 wurde er in den Beirat Theater/Tanz des Goethe-Instituts berufen. Auf der Frühjahrs-Mitgliederversammlung der Akademie der Künste Berlin am 25. Mai 2013 wurde Khuon als neues Mitglied in die Sektion Darstellende Kunst gewählt. Von 2011 bis 2016 war er Vorsitzender der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins, zu dessen Präsidenten er am 24. Januar 2017 gewählt wurde. – Khuon wurde 1997 zum Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hannover ernannt. (Quelle: Wikipedia)  – Die Website des Deutschen Theaters verzeichnet noch mehr (Ehren)Ämter: Von 2008 bis 2014 war er im Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Er ist Mitglied in der Kommission zur Verleihung der Goethe Medaille sowie der Praemium Imperiale. 2018 wurde er in den Stiftungsbeirat der Kulturstiftung des Bundes berufen. Im Oktober 2013 verlieh ihm die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger den Max-Reinhardt-Ring.  (Letzteres muss man sich mal vorstellen, unfassbar!)