Kölns „Bauturm“ verankert Artauds Theater-Pamphlet in der Neuzeit
Von Günther Hennecke
Köln – Man traut sich was im Kölner „Bauturm“-Theater. Dass dieser Mut derzeit auf eine historische Goldmine trifft, sprich: exakt in der Corona –Moderne verankert ist, macht das Projekt zu einem Volltreffer. Jedenfalls im Zusammentreffen von Fiktion und Realität.
Nach der Bühnenadaption der Film
Als Regisseur Kieran Joel auf einen Text des französischen Allround-Künstlers und Kunst-Chaoten Antonin Artaud (1896-1948) stieß, der das europäische Theater mit seinem Pamphlet „Das Theater und sein Double“ von 1933 grundsätzlich ins Wanken bringen wollte, war klar: Das passt in die Zeit. Wurden die Theater doch, Corona sei „Dank“, kurz nach der realen Theater-Premiere des Artaud-Stücks im Juni in Köln geschlossen. Joels Regie hatte das Bühnenstück bereits als wildes und ungestümes Panorama einer Welt im Umbruch auf die Kölner Bühne gebracht.

Faszination des Unberechenbaren
Artauds Pamphlet ist einerseits der Versuch, die Kunstform Theater zu retten, andererseits fasziniert ihn das Unberechenbare und Unbekannte einer Ausnahmesituation. Die Bühnen-Revolution, die sich der Franzose erhoffte, zeigt im Heute freilich ein ganz eigenes Gesicht. Das Theater, von ihm als „Pest“ verteufelt, die nur dazu diene, „gewaltige kollektive Abszesse zu entleeren“, lief sich in einer modernen Pandemie fest. Was im November fortgesetzt und zugleich der aktuellen Corona-Lage angepasst werden sollte, war erneut gegen die Wand gefahren: geschlossene Bühnen überall.
Das Bühnenstück für den Film weiterentwickelt
So entstand der Plan, den analogen „Bauturm“-Theaterabend in einen Film umzuwandeln, in dem das Thema gleichzeitig weiterentwickelt werden sollte. Nun ist das Ergebnis bis 30. April online zu sehen. Doch kann die Film-Version ihr Versprechen einlösen, Artaud für die Corona-Zeit in die Pflicht zu nehmen? Der kaum halbstündige Film gibt sich zwar alle Mühe, Chaos über Chaos zu häufen, in Blut zu tauchen und Artauds oft ungeheuer klingende Verbal-Injurien und Explosionen von Hassliebe zum Theater aufbrechen zu lassen. Gleichwohl bleibt ein Rest von Zweifel. Dabei ist Joel, als Regisseur und Schauspieler, Inszenator seiner eigenen Zweifel, Unsicherheiten und Wutausbrüche. Das „Virus“ ist, so versetzt er Artauds Pest-Vergleich mit dem Theater ins Heute, „unser Schwester und Bruder, das dabei alles möglich macht, wofür wir seit Jahren im Theater leben“. Zudem wäre, wie er rausschreit, „das wirklich Artaudische, die Fresse zu halten“ und „dem Virus die Chance zu geben, wirkliche Fragen zu stellen“.
Fledermäuse und hektische Klinikszenen
Der Online-Film startet, wie einst im Juni die Theateraufführung, mit dem Blick auf die Bühne des Bauturms. Zuschauer verlassen den Raum – und der Blick fällt auf einen jungen Mann (Jeremy Mockridge), der in Unterwäsche lesend auf einem Stahlbett sitzt. Unvermittelt folgen Stadtbild-Szenen, an Decken hängende Fledermäuse, chaotische- hektische Klinik- Szenen. Corona ist schon da, ehe es richtig losgeht. Der Regisseur greift ein, kommt hinzu – und beide Männer husten sich fast die Lunge aus dem Hals.
Zersetzung und zu Asche zerfallen
Und schon beginnt der Zerfall, kündigt unser Bett-Held „ein Gewitter ohnegleichen“ an. Zuvor wird die Pest beschworen, fließen Blut und Eiter in Mengen. Noch nur verbal, ehe unser Proband, Nase und Wange blutverschmiert, in Großformat erscheint. Fantasiert hat er, geträumt und sah im Traum seine „stoffliche Zersetzung“ und sich „zu Asche verfallen“. Schließlich taucht einmal mehr der Regisseur auf, bricht die Handlung auf die Probe-Ebene herunter – und fordert wesentlich mehr Emotionalität.
Theater ist wie die Pest – eine Offenbarung
Dann folgen, mit Verve, Wut und Verzweiflung herausgeschleudert, Worte zum Theater, das zwar „Konflikte löst, aber keine Möglichkeit zur Erneuerung bietet“. Und mit dem Autor weiter: „Wenn das Theater hilft wie die Pest, dann weil es eine Offenbarung ist“. Also letztlich doch noch ein hohes Lied aufs Theater? Dass die Bühnen noch immer geschlossen sind, ist, so würde sich Artaud dazu sicherlich äußern, ein Skandal – weil die Offenbarung im Dunkel der Bühne verborgen bleibt.
Chaotische Quintessenz – voller Mut
Bei allen Vorbehalten Artaud und der wildchaotischen Inszenierung gegenüber: Kompliment dem Bauturm und dem Team für ihren Mut und Findungsreichtum. Wenn der Film auch keine Offenbarung ist, so doch auf belebende Art vielfach verwirrend. Mit offen bleibenden Fragen – und Antworten.
„Das Theater und sein Double. Eine Projektion“
Nach Antonin Artaud
Ein Film des Theaters im Bauturm, Köln
Premiere: 29. Januar 2021
Regie: Kieran Joel
Kamera und Schnitt: Nazgol Emami
Musik: Coxette
Ausstattung: Katharina Wilting
NMit Jeremy Mockridge, Kiran Joel und Bernhard Dechant
Kurz und knapp: Eine äußerst emotionale und vielfach verwirrende Filmstudie, die letztlich mehr Fragen als Antworten bereithält. Kompliment immerhin für den Mut, sich in dieses Thema geradezu hineinzuwühlen