Der bürgerliche Held

Julian Barnes „Der Mann im roten Rock“

Julian Barnes ordnet seinem „Mann im roten Rock“ keine Gattungsbezeichnung zu, weder „Roman“ noch „Biographie“ – aus gutem Grund. Barnes erzählt die Geschichte von Dr. Samuel Pozzi, einem bekannten französischen Gynäkologen, der von 1846 bis 1918 lebte, eine Bilderbuchkarriere machte, eine prominente Rolle in der besten Pariser Gesellschaft spielte und Affairen hatte, die jeden Mann vor Neid erblassen lassen.

Eine Biographie ist das Buch gewiss nicht, weil Barnes darauf hinweist, was man alles nicht über Dr. Pozzi weiß, vor allem seine sexuellen Gepflogenheiten müssen im Dunkeln bleiben. Barnes erzählt detailfreudig, dass damals viele Männer homosexuell waren, das aber wegen der Repressionen besser verheimlichten – ob Dr. Pozzi nun bi war oder hetero – immer wieder weist Barnes darauf hin, dass er das nicht weiß, dass Pozzis Biographen es nicht wissen und eigentlich niemand. Dieses Bezeichnen der Leerstellen (weiß nicht, immer wieder: weiß ich nicht)  ist originell und ganz wunderbar, weil ehrlich. Jeder mediocre Biograph würde sich mühen, die Leerstellen zu füllen oder zu verdecken – aber warum eigentlich? Wie viel wissen wir nicht über unsre Mitmenschen, geschweige denn über historische Persönlichkeiten einer anderen Epoche und Klasse. Diese Leerstellen weisen auf unsere Unkenntnis und bewahren uns vor der Prätention, Bescheid zu wissen.

John Singer Sargents Dr. Pozzi at Home (1881)

Auf dem Buchdeckel hat der Verlag einen Ausschnitt von John Singer Sargents Dr. Pozzi at Home (1881) abgebildet, nicht das ganze Bild. Ein guter Hinweis auf das Fragmentarische der Beschreibung. Im Inneren des Buches ist das ganze Porträt abgebildet – damit wir den Unterschied besser erkennen können. Sargents Porträt war der Ausgangspunkt von Julian Barnes, sich für Pozzi zu interessieren und sein Buch zu schreiben – wir Leser*innen haben das Vergnügen, das Gemälde und das Buch miteinander zu vergleichen. Barnes Buch ist interessanter, weil es so viele Einzelheiten mitteilt, aber Buch und Gemälde ergänzen einander.

Zu den Einzelheiten gehören Porträts (literarische aber auch bildliche, das Buch ist reich und instruktiv illustriert)  von einigen  Zeitgenossen Pozzis – einer ist besonders plastisch geworden, ein Graf, heute zu Recht vergessen. Er muss ein furchtbarer Snob gewesen sein,   hat seine Mitmenschen von oben herab angesehen, war homosexuell und hat seine Gefährten nach Lust&Laune unmenschlich behandelt. Es war ihm offenbar eine Freude, sie zu demütigen – seine ästhetischen Leistungen schätzt Barnes wenig. Der Graf vertrat einen Ästhetizismus, der seiner aristokratischen Anmaßung entsprach – für die Literaturgeschichte wenig fruchtbar. Versunken und vergessen, das ist des Sängers Fluch.

Und Barnes beschreibt, um die Belle Époque zu charakterisieren,  viele interessante Nebengestalten, u. a. Oscar Wilde, den Barnes in kritisches Licht rückt. Heraus kommt, dass Dr. Pozzi ihnen allen überlegen ist. Als Arzt hat er vielen Frauen geholfen, Damen der besten Gesellschaft wie einfachen Frauen, die kein Honorar zahlen konnten. Er war ein Forscher und hat als Chirurg kühn neue Wege beschritten. Er hat durchgesetzt, dass an der Pariser Universität die allererste  Professur für Gynäkologie eingerichtet wurde und ein Krankenhaus geleitet.   Barnes, ein geschworener Feind des Brexit,  betont, das Dr. Pozzi oft gereist ist, in Europa, in Amerika, Nord und Süd –  aus aller Welt kluge Anregungen  nach Haus, in sein Hospital, an seine Universität mitgebracht hat. Das Gegenteil von einem bornierten Brexiteer. Der letzte Satz in Barnes Anmerkungen lautet „… er war so etwas wie ein Held“.

Das gibt es gar nicht, besser: gab es bislang nicht, einen bürgerlichen Helden. Denken Sie an Sternheim, „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ -ein bürgerlicher Held ist ein Witz,  contradictio in adiecto.

Nicht so bei Barnes, seine These ist glaubhaft. Insofern ist sein Buch auch eine Exploration neuer Gefilde, jenseits von Roman und Biografie. Ganz wunderbar, Vielleicht sollte man die neue Gattung „Barnes“ nennen. Ein Barnes verspricht Erkenntniszuwachs, Bewusstseinswandel. Gertraude Kruegers Übersetzung ist makellos. Lesenswert.

                                                                                              Ulrich Fischer

Julian Barnes: Der Mann im roten Rock. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Köln (Kiepenheuer&Witsch) 2021. 299 S.,  24,00 €, e-Book 19,99 €.