Weniger wäre mehr

Rainald Goetz‘ „Reich des Todes“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt und zum Mülheimer Dramatiker*innenwettbewerb eingeladen

HAMBURG. Rainald Goetz erregte Aufsehen, als er sich beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1983 die Stirn aufschlitzte. Einige urteilten, er sei ein Spinner, andere dachten an einen PR-Gag, wieder andere meinten, Goetz habe auf die Dringlichkeit seines Textes und seines Anliegens hinweisen wollen. Letzteres hat einiges für sich: Rainald Goetz möchte gern, nein: er will unbedingt mit seiner Literatur in die Welt hinein wirken –   weiß indes gleichzeitig, dass das aussichtslos ist. Dieser unauflösbare Widerspruch bestimmte viele seiner Romane, viele seiner Dramen.
Fürs Theater war er lange verstummt, jetzt, nach über 20 Jahren, meldet er sich wieder.  Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg, eine der angesehensten Bühnen der Republik, hat sich seines Fünfakters „Reich des Todes“ angenommen, die Intendantin, Karin Beier, inszeniert selbst die Uraufführung.
Szenenfoto aus dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Foto: Declair
Ausgangspunkt ist der 11. September, der Angriff auf das World Trade Center in New York. Vizepräsident Selch, ein diabolischer Charakter (meisterhaft mephistophelisch: Sebastian Blomberg), erkennt sofort die Chance, die sich ihm bietet. Er will die Demokratie durch ein autoritäres System ersetzen. Deshalb spricht er nicht davon, dass es sich bei der Attacke um ein Verbrechen handelt, sondern um Krieg. Folglich erklärt er den Angreifern auch den Krieg, den berühmten „Krieg gegen den Terror“. Die Terroristen sind abgrundtief böse, folglich haben sie keine Rechte. Wer die Guten verteidigen will, mussdarfkann deshalb mit allen Mitteln gegen die Terroristen vorgehen. Alle Grenzen fallen – die Gefangenen werden Opfer unmenschlicher Behandlung.
Regisseurin Karin Beier und ihr Ensemble geben sich alle erdenkliche Mühe, die Schrecken der Folter auf die Bühne zu bringen – aber das Grauen bleibt weit hinter der Wirklichkeit zurück.  Johannes Schütz hat in seinem schmucklos-funktionalen Bühnenbild viel Raum für  Videoprojektionen eingearbeitet und  Voxi Bärenklau hat Videos ausgewählt, die weithin bekannt sind aus den Katakomben der US-Amerikaner – die Partikel sind wirksamer als das Spiel der Akteure, sie transportieren mehr Wirklichkeit, mehr Wahrscheinlichkeit – vor allem das zur Ikone gewordene Foto von einem Gefangenen im Poncho, der, die Arme gespreizt, mit einer spitzen Tüte, die seinen Kopf verhüllt, mit Drähten an den Fingern auf einem Podest steht.
Ausführlich klagt das Stück die Rechtsverdreher der US-Regierung an, die die Gesetze in ihr Gegenteil verkehren, um Folter als legale Form des Verhörs hinzustellen. Als sie später zur Rechenschaft gezogen werden sollen, verstecken sie sich feige hinter ihren Untergebenen –  nicht sie waren Schuld, nur einige wenige fehlgeleitete Soldaten. Hier treten oft Schauspieler mit Nebelmaschinen auf – eine der besten Regieideen.
Die Geschichte wird immer wieder unterbrochen, es treten Figuren auf, deren Identität nur schwer zu enträtseln ist, das Stück ist eine Zumutung (Dauer 4 ¼ Stunden), für die Zuschauer, aber auch für die Schauspieler – sie müssen Textgebirge bewältigen. Ich habe die B-Uraufführung gesehen, die Souffleuse hatte gut zu tun.
Der Themenkomplex überfordert aber auch die Form des Dramas – deshalb stellt Rainald Goetz wichtige Fragen –Was ist das Böse? Wie entsteht es? Und: Warum gieren Menschen nach Macht? – in Form eines Aufsatzes und fügt den bedenkenlos kurz vor Ende in sein Drama ein. Die Schauspieler bekommen jeder einen Notenständer, stellen sich auf die Bühne und tragen den Essay vor – mitunter chorisch, dann aber auch wieder als Solo. Trotz teilweise extremer Expressivität der Mimen – sie vermögen dem theoretischen Text kein Bühnenleben einzuhauchen. Mitunter wird durch die Übertreibung des Ausdrucks der Sinn beschädigt – brüllen ist kein wirksames Hilfsmittel. Rita Thiele hat die Produktion dramaturgisch begleitet, sie ist z. Zt. eine der Besten, wenn nicht überhaupt die Beste ihres Fachs – wo hat sie nur ihren Rotstift gelassen? Er hätte geschwungen werden sollen, ja wüten müssen. Denn …
… das Stück ist überfrachtet.

Ulrich Fischer

Spieldauer in HH: 4 Stunden 15 Minuten. Den Text kann man als Programm gleich vor der Aufführung kaufen, ein faires Angebot: Rainald Goetz: Reich des Todes. Textbuch. Suhrkamp. (Auch eine Zumutung, die 88 S. sind viel zu klein gedruckt.)