Fernsehen

Boris Nikitins  „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“  beim Dramatikerwettbewerb 2021

MÜLHEIM.   Boris Nikitin schiebt noch vor die erste Szene seines neuen Stücks „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ eine Einblendung. Er skizziert das Jahr 2000 in Deutschland, Politik, Pop, und fährt fort: „… in einer unbedeutenden Stadt … ziehen zehn unbekannte Menschen in einen Container, um sich für eine TV-Show während hundert Tagen rund um die Uhr von einer ganzen Bevölkerung bei ihren alltäglichen Verrichtungen beobachten zu lassen.“ Die Einblendung schließt: „Ohne dass die Produzent*innen und Kanidat*innen es ahnen, wird damit ein neues Zeitalter eingeläutet. Das Zeitalter der Reality. Wissenschaftler*innen werden später behaupten, dass in dieser Reality unbewusst sämtliche Mechanismen des Populismus im 21. Jahrhundert angelegt wurden.“ (S. 4)

Boris Nikitin

Wenn Nitikin mit seinem Stück diese Behauptung stützen möchte, so ist ihm dies nicht gelungen. Er nutzt authentisches Material: „Bei den Texten handelt es sich zu 100 % um Originaldialoge aus der Show./ Sie sind komplett erfunden.“ Der Widerspruch wird nicht aufgelöst.

Die drei Akte beherrschen Diskussionen, teilweise banal, dann auch wieder anspruchsvoll, die Handlung selbst wird nur angedeutet: es geht darum, in der Show zu bleiben. Wer ausscheidet, muss ins tägliche Leben zurückkehren – wer als Letzter bleibt, bekommt einen attraktiven Preis. Der Text gewinnt Interesse für Zuschauer, die gern wissen möchten, wie man die Sympathie der Teilnehmer*innen gewinnt, denn die entscheiden, wer gehen muss. Was gehört zu den Strategien, die anderen zu überzeugen? Ehrlichkeit, Lüge? Täuschung? Einfühlungsvermögen? Opportunismus? Die rechte Mischung? Die Entscheidung liegt beim Zuschauer.

Wer der „Große Bruder“ ist, wird nicht enthüllt; eine Szene lehnt sich an George Orwells negative Utopie „1984“ an, dort ist der Große Bruder der von allen angstschlotternd geliebte Tyrann. – Die Frage steht im Raum: Wer veranstaltet diese Show? Der Große Bruder?  Welche Absicht steht dahinter? Warum kann eine Konkurrenz, bei der nur einer übrig bleibt oder eine, das Interesse so vieler gewinnen?

Aber wieso der Populismus hier seine Wurzel haben soll, ist unerfindlich. Ein Auftritt von John, einer Figur mit proletarischen Zügen, soll wohl Hinweise geben. John vermischt seine Erfahrungen mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes und Schikanen seiner Arbeitgeber mit Vorurteilen über Russen und Polen, es ergibt sich ein Wirrwarr, die Sätze verflechten sich bis zum Unsinn – aber woran das liegt? An Johns mangelndem Unterscheidungsvermögen, am Druck der Verhältnisse, bleibt unklar.

Der Zusammenhang von Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit und faschistischen Vorurteilen gegen Ausländer wird fruchtbarer in Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ erörtert – die Schaubühne hat die Uraufführung einer Dramatisierung von Thomas Ostermeier 2017 uraufgeführt. Damit kann sich Boris Nikitin nicht entfernt vergleichen – und schon gar nicht messen. Das Stück hätte nicht nach Mülheim eingeladen werden sollen.

                                                                                              Ulrich Fischer