Thomas Freyer ist mit „Stummes Land“ beim Dramatikerwettbewerb 2021
MÜLHEIM. Thomas Freyer hat sein Schauspiel „Stummes Land“ als Dreiakter konzipiert. Im ersten Akt treffen sich Freunde, nachdem sie sich länger nicht gesehen haben, zum Abendessen – um ihre Freund- oder Bekanntschaft aufzufrischen, sich zu erinnern, aber auch jetzige Standpunkte darzulegen, zu erörtern und zu diskutieren. Sie sprechen dem Wein zu, der ihre Zungen löst. Heraus kommt eine Debatte über die Haltung zu Ausländern, die nach Deutschland kommen, vor allem Menschen aus dem Nahen Osten, die in der Bundesrepublik Zuflucht suchen. Es gibt eindeutig Mentalreservationen, ja mehr, öfter fällt das Wort „Rassismus“.
Massiver Rassismus beherrscht den zweiten Akt: Rassismus in der nationalsozialistischen Ära – und der Umgang mit diesem Rassismus, mit dem Nationalsozialismus in der DDR. Ein Block des Zweiten Aktes beschäftigt sich mit dem 17. Juni 1953. Die DDR-Spitze hat es mit massivem Unmut zu tun – die Regierung stützt sich auf die sowjetischen Streitkräfte, die Propagandaabteilungen bekommen zu tun, den Unmut zu vertuschen und berechtigte Forderungen zu unterdrücken. Der Faschismus wird instrumentalisiert – die schrecklichen Erfahrungen, die Kommunisten mit den Nationalsozialisten gemacht hatten, müssen nun dazu dienen, Faschisten als Urheber der Unruhen zu stigmatisieren – Ziel sei der Umsturz. Freyer weist auf beklemmende Lebensläufe hin: die SED hat frühere Faschisten, um sie in Dienst zu nehmen, rehabilitiert. Die Partei konnte jederzeit damit drohen, ihre Vergangenheit gegen sie einzusetzen und erzwang so Unterwerfung – ohne Überzeugung. Freyer stellt den Opportunismus in den Mittelpunkt, der so erzeugt wurde. Seine These: Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus unterbleib in der DDR.
Das führt direkt zum dritten Akt, einem langen Monolog (?), (der auch auf die vier Schauspieler des Ersten Aktes aufgeteilt werden könnte, kann – Freyer ordnet die Teile des Textes keinem Akteur/keiner Aktrice zu), einer Klage darüber, das auch heute wesentliche (nicht nur aber vor allem mentale) Schichten des Faschismus nicht aufgearbeitet sind, schlimmer: fortdauern. Hier schließt sich der Kreis – zum ersten Akt. Wenn Wein die Zungen löst, kommen alte Vorurteile hoch, und noch stärker das Herrendenken. (Im Zentrum des Stücks wird das „Deutschlandlied“ gesungen, nicht unsere Nationalhymne, sondern der erste und zweite Vers – „von der Etsch bis an den Belt“ – und „deutsche Frauen, deutscher Sang“.)
Hier findet Freyer überzeugende Formulierungen, die vielleicht den ein oder anderen Zuschauer, die ein oder andere Zuschauerin ansprechen: Überlegenheitsgesten, die Abweisung der anderen, weil sie Niedere sind. Kein Antisemitismus im Sinn von Bibbi, Vorbehalte gegen arme Leute, gegen Flüchtlinge, gegen Menschen, die zu Haus nichts hinbekommen, weder Staaten aufbauen, noch Frieden halten oder gar die Grundlage für Einigkeit und Recht und Freiheit, für Wohlstand, legen.
Aber es muss guter Wille beim Publikum vorhanden sein, um diese Zusammenhänge zu konstruieren, die in das (unausgesprochene) Plädoyer münden, endlich die Zusammenhänge zwischen Mentalreservationen gegenüber Flüchtlingen und dem Rassismus unserer Eltern und Großeltern zu erkennen. Stärker ist der Eindruck von Zusammenhanglosigkeit. Das Stück wirkt wie Stückwerk, das es vermutlich nicht sein soll. Dem „Stummen Land“ fehlt Professionalität. Einerseits. Andererseits: „Das stumme Land“ spricht nicht.
Ulrich Fischer