„Die gefährlichste Form der Rohheit“

Moritz Rinke rüttelt sanft auf

Moritz Rinke hat nicht nur seinem neuen Roman den Titel „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“ gegeben, sondern auch dem wichtigsten Kapitel. Pedro hat sich ermannt, er folgt dem Rat seines Freundes und fliegt mit ihm von seiner Heimatinsel Lanzarote nach Barcelona. Dorthin ist seine Frau ihrem   neuen Freund gefolgt und hat Pedros und ihren Sohn gleich mitgenommen. Jetzt will Pedro ihn entführen, wieder zurück nach Haus holen. Zunächst wollen Pedro und sein Freund den Jungen nach der Schule abpassen, dann zu einem Fußballmatch mitnehmen, in dem ein Spieler der Götterklasse mitspielt, und schließlich mit dem letzten Flugzeug zu dritt abhauen, nach Lanzarote. Es lässt sich erst alles gut an, aber dann geht einiges gründlich schief.

Moritz Rinke – Foto: Peter Sickert

Der Zerfall der Familie ist nur eine von vielen Krisen, die Pedros Leben in der postliberal-digitalen Ära bedrohen. Er ist Postbote –  „seine“ Briefe werden immer weniger. Schließlich merkt das sogar die Königliche Post – wird Pedros Betrug, der ein normales Briefvolumen vortäuscht, rauskommen? Und Pedros Freund, ein Fischer ohne Boot – kann er je wieder einsteigen, wenn die EU die Hürden so hoch türmt, dass ein armer Mann sie nie übersteigen kann? Oder wird er gedrängt, ins profitable, aber lebensgefährliche Schleusergeschäft einzusteigen? Die beiden machen die Bekanntschaft eines spanischsprechenden Literaturwissenschaftlers aus Äquatorialafrika, der durch die Sahara wieder nach Hause zurück will, weil die Sklavenarbeit in spanischen Tomatenplantagen unerträglich ist.

Der Roman geht nicht gut aus, und er geht auch nicht schlecht aus. Rinke, ein Schmetterling, der Zentnerlasten transportiert,  beschreibt sanft und unerbittlich eine Gegenwart, die nicht zu dulden ist. Greta Thunbergs Mahnung kommt dem Leser in den Sinn: „I don’t want you to smile, I want you to panic!“ Das beschreibt Rinkes Wirkungsabsicht. In seinem „Dank“ widmet er seinen Roman „15 Kindern aus der Westsahara, die im Februar 2009 mit einem Flüchtlingsboot in Tanger gestartet und kurz vor der Küste Lanzarotes, nahe des Ortes Los Cocoteros, ertrunken sind.“ Amado, der afrikanische Freund, hatte erklärt, „dass man die Gleichgültigkeit besiegen müsse und dass sie die gefährlichste Form der Rohheit sei.“ (S. 411)

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Das geheime Gravitationszentrum des Romans ist Vaterliebe, Rinke beschreibt oft, wie Pedro weint. Es gibt gute Gründe über Rinke zu schmunzeln, weil der „Der längste Tag…“ sentimental scheint, Kitsch. Ist er aber nicht. Rinke erobert unerschrocken mit seinem Text das Feld männlichen Gefühls literarisch zurück – ein weites Feld. Rinke hat Mut!

Der ebenso zarte wie harte Roman wendet sich ganz entschieden gegen die Gleichgültigkeit. Rinke ist ein Poet, kein Polemiker, er zielt auf unsere Köpfe, aber vor allem auf unsere Herzen.   

                                                                  Ulrich Fischer

Moritz Rinke: „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“. Köln 2021, 436 S. kosten 24,00 €.