Federleicht und bedenkenschwer

René Polleschs „J’accuse“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt

HAMBURG.  Eben hat René Pollesch die Intendanz der Berliner Volksbühne übernommen, eben   wurde dort die Uraufführung eines neuen Stücks von ihm gezeigt, das er – wie immer – selbst auch inszeniert hat, da haut er schon wieder eine neue Uraufführung raus:  am Samstag (25. 9.) „J’accuse!“  („Ich klage an!“) im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Pollesch ist wirklich geradezu unheimlich produktiv, und es geht ihm ganz bestimmt nicht um Perfektion. Wenn   Hänger die Schauspieler ereilen, wenn ein Dialog nicht sitzt – macht nix; Victoria  Voigt, die Souffleuse, ist zur Stelle und hilft, laut und deutlich, damit das Publikum hören kann: hier spielen Leute Theater.

 Mit „J’accuse“ griff Émile Zola (1898) die verrottete&bösartige herrschende Klasse in Frankreich an, der Zeitungsartikel war der Anfang vom Ende des Dreyfus-Skandals – das Meisterstück einer feurigen Anklage, das bis heute Bewunderung erregt. Und wen klagt René Pollesch an?

Sophie Rois – Foto: Thomas Aurin

Sophie Rois, gestählt in vielen Pollesch-Stücken, erhebt in Tragödinnenmanier ihre Stimme, sie klagt völlig übertrieben an, ein Pathos aus der Mottenkiste – Pollesch und seine Frauschaft (das Ensemble besteht aus fünf Damen: mit Sophie Rois Sachiko Hara, Eva Maria Nikolaus, Angelika Richter und Marie Rosa Tietjen) weisen darauf hin, dass sie nichts zu klagen haben, es geht ihnen im wohlsubventionierten Theater gut. Pollesch hegt schwere Zweifel, ob es glaubhaft ist, wenn in Watte gepackte und gepäppelte Theaterleute lauthals anklagen. Ein Witz betrifft auch ihn und seine neue Intendantenwürde.

Der erste Teil des nur fünf Viertelstunden dauernden Abends spielt in einem Vergnügungspark, in dem die Damen Wildwest in der Mitte des 19. Jahrhunderts spielen und sich abknallen. Bühnenbildnerin Barbara Steiner hat dafür einen riesigen Pappvulkan entworfen, über und über bemalt mit Kinderzeichnungen, mitten drin knallrot ein Covid-Virus; der Vulkan kann auch Dampf speien. Eingewoben in die Handlung  sind Theoriepartikel  u. a. von Niklas Luhmann und Dominik Finkelde, die  schwer zu verstehen sind – Pollesch lässt sie zitieren, wohl um darauf hinzuweisen, dass sie wenig bis nichts erklären. Ohne jeden Zusammenhang (?) rezitiert Sophie  Rois einfühlsam einen Teil aus Brechts Gedicht „Lob des Kommunismus“.

Der spektakuläre Höhepunkt ist der Auftritt einer Kuh – sie heißt Sunshine und ist eine Schönheit, weißes Fell mit braunen Flecken. Sunshine bekommt Szenenapplaus; die fünf Damen nehmen ihren Auftritt zum Anlass, über Authentizität zu diskutieren. Pollesch und seine Mitstreiterinnen machen sich lustig über eine aktuelle verstiegene Theaterdebatte, die sich tiefschürfend gibt. Darf auf dem Theater ein Weißer Othello spielen oder ein Afrikaner einen Europäer? Ein Mann eine Frau, ein Erwachsener ein Kind? Charles Bronson die sieben Zwerge? Fehlt da nicht die Authentizität?

Der spöttische Ton, die Ironie, der Witz der Einfälle blasen dem Abend Wind unter die Flügel – er sprüht Esprit und endet heiter.

Aber lässt doch Fragen zurück – sicher ganz im Sinne der Theatermacher: sollte, muss das Theater nicht manchmal anklagen, „J’accuse!“ rufen, ernst und ohne Ironie, wenn es gegen Unrecht geht?

Trotz federleicht auch bedenkenschwer – Pollesch und seinen Damen ist ein sehenswerter kurzer Abend geglückt.

                                                                                   Ulrich Fischer

Nächste Aufführung am 3.  und 23. 10.  

Spieldauer: 1 Stunde und 15 Minuten.