Rüffel

Zu René Polleschs „J’accuse“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

HOHENFIER. Mein Bruder ist mein großer Bruder. Er ist der Stolz der Familie, war Starfighter-Pilot und lange Jahre Kapitän der Lufthansa. Sein Feld ist die Welt. Er ist hochintelligent, er hat mir den Dreisatz erklärt. Und ich warbin keine Leuchte.

Mein großer Bruder

Kürzlich hatte ich eine zweite Karte für die Uraufführung von René Polleschs „J’accuse“ in Hamburg, lud meinen Bruder ein, und er kam mit. Wir haben uns gut amüsiert, ich schickte ihm am nächsten Tag meine Kritik, und er sagte mir, er sei einerseits sehr zufrieden, andererseits gar nicht.

Ich hatte u.a. geschrieben, um Polleschs Titel zu erläutern:  „Mit ‚J’accuse‘ griff Émile Zola (1898) die verrottete&bösartige herrschende Klasse in Frankreich an, der Zeitungsartikel war der Anfang vom Ende des Dreyfus-Skandals – das Meisterstück einer feurigen Anklage, das bis heute Bewunderung erregt.“

Mein Bruder erläuterte, dass er diesen Zusammenhang nicht kannte und dankbar war für die Erklärung. Dann kam das dicke Ende: Als Kritiker hätte ich die verdammte Pflicht und Schuldigkeit darauf hinzuweisen, dass solche Zitate nicht allen auflösbar wären.

Ich war ganz erschrocken und fragte meine Nichte – beiläufig die beste Nichte der Welt -, eine erfolgreiche Geschäftsfrau, ob sie „J’accuse“ kannte – kannte sie nicht. Dann fragte ich meine Großnichte – beiläufig die beste Großnichte der Welt, nicht nur eine schöne junge Dame, was hier nicht zur Sache gehört, sondern Einserabiturientin – und auch sie konnte mit „J’accuse“ nichts anfangen. Natürlich übersetzen – aber ob das ein berühmtes Zitat wäre???

Meine Frau meinte, jeder gebildete Mitteleuropäer müsste assoziieren „J’accuse. Zola. Dreyfus-Affäre“ – aber ich muss meinem Bruder Recht geben. Wenn er nix damit anfangen kann und seine Tochter und Enkelin ebenso wenig – dann hat René Pollesch was falsch gemacht und ich auch. Ich hätte Pollesch und das Deutsche Schauspielhaus darauf hinweisen müssen, dass sie über den Kopf ihrer Zuschauer hinweg zielen – und damit Zuschauer nicht nur nicht erreichen, sondern auch verschrecken.

Schlimmer: der Künstler erreicht den Zweck seines Zitats nicht, wenn das Publikum es nicht erkennt und in seinen Zusammenhang einordnen kann.

Das ist nicht nur ein Problem von René Pollesch, dem Deutschen Schauspielhaus, mir und meinem Bruder – es ist eines des gesamten Deutschen Theaters. Es ist elitär – elitär, wo es sich öffnen müsste, einen Bildungsauftrag hat. Und man muss nicht wie mein Bruder, meine Nichte und Großnichte das Abitur haben, um ins Theater zu gehen. Au contraire!

Brecht hat es mal ganz einfach und leicht gesagt, so dass es sogar hochrangige Theaterleutinnen verstehen könn(t)en:

Aus dem kleinen Kreis der Kenner einen großen machen!

                                                                                     Ulrich Fischer

Diese Kritikkritik ist eine Strafarbeit, die ich gern geschrieben habe.