Geheimnis offenbart

Frank Castorf hat was gegen Geheimdienste

HAMBURG.  Joseph Conrad (1857 – 1924) glänzt als heller Stern am Himmel der Literatur, sein Roman „Das Herz der Finsternis“ gilt nicht nur als Welterfolg, der Titel selbst – „Das Herz der Finsternis“ – ist sogar ein geflügeltes Wort geworden. Conrads Roman „Der Geheimagent“ (1907) hingegen ist bei uns fast vergessen, obwohl Thomas Mann ein ausführliches Vorwort geschrieben hat. Mann hebt die ironische, komische Seite des Romans hervor – sehr zu Recht.

Handlung

Wenn das Werk von einem Autor, der zentrale Anmaßungen der herrschenden Klassen seines Zeitalters (Die europäische Kultur sei human[istisch]), zerreißt, in die Fänge eines anderen Meisters der Dekonstruktion gerät, dann wird es kritischkritisch und doppeltkomisch. Frank Castorf hat Conrads „Geheimagenten“ fürs Theater eingerichtet und inszeniert, die Uraufführung am Freitag im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg war für einen Castorf kurz, nur fünf Stunden und ein paar Zerquetschte. Agenten der im Publikum vertretenen Geheimdienste können Überstunden abrechnen.

Deutsches SchauSpielHaus Hamburg: „Der Geheimagent“ von Joseph Conrad. Regie: Frank Castorf. Bühne: Aleksandar Denic. Kostüme: Adriana Braga Peretzki. Premiere am 12.11.2021 im SchauSpielHaus. Foto: Angelika Richter © Thomas Aurin, 2021.

Der zentrale Witz: der Geheimagent, der revolutionäre Gruppen ent- und aufdecken soll, gründet (weil er keine findet), selbst eine und wird, als ehrgeiziger agent provocateur, ihr Vorsitzender. Sein Vorgesetzter (ein Feind der Engländer in hoher Botschaftsstellung eines feindlichen Staates)  will vor einer wichtigen Konferenz mehr Action und stiftet seinen Mitarbeiter zu revolutionären Taten an, damit die englische Polizei, die ihm viel zu liberal ist, endlich mal energischer die Knüppel schwingt und der Henker was zu tun kriegt. Aber die Bombe, die Exzellenz initiiert, geht nach hinten los, Opfer wird der Bombenleger. Der Agent stirbt und seine Frau … genau! Es herrscht „Der Gott des Genmetzels“ – aber das ist ein anderes Stück, obwohl es auf das gleiche ‚rausläuft. Der Terrorismus ist auch nicht mehr das, was er mal war, aber die Terrorismusbekämpfung ist heute viel besser. Das hat Herr Seehofer selbst gesagt.

Regie

Frank Castorf beleuchtet das Chaos, Absicht und contraproduktive Folge mit ätzendem Spott, die Aufführung ist heiter, die komische Tragödie erweist sich als tragische Lachnummer, und sie wird umso unübersichtlicher, je länger sie dauert. (Während des vierten Aktes könnte man gut die Zeitung lesen, wenn das Licht im Großen Haus nicht so herabgedimmt wäre). Manchmal könnte man meinen, Herr Castorf zweifele an der wohltuenden Wirksamkeit unser wunderbaren Geheimdienste. Ob das nicht zu weit geht? – Castorf ist eben radikal.

Szenen

Aus der Vielzahl der geglückten Szenen gibt es zwei besonders gelungene: gegen Ende einen Totentanz – der Tod tanzt mit seinem Regenschirm wie bei „I’m singin‘ in the rain“ – angesichts unserer Pandemie könnte man meinen, Gevatter Hein gehe es gut, die reiche Ernte beschwinge ihn. Eine andere Szene in der Mitte: die Mörderin! Sie schwingt das Messer und trifft ihren Peiniger in den Hals beim Schlüsselbein. Angelika Richter lehnt sich an expressionistische Traditionen an, überexpressiv, Stummfilm und früher Tonfilm werden zitiert – und übertrieben. Die vom Video in (ein grobkörniges) Cinemascopeformat vergrößerte Szene ist wahnsinnig komisch, obwohl ja so ein Mord auch andere Seiten hat; der Auftritt trifft genau den Ton, den   Castorf anschlägt; seine Fassung fußt auf Günther Danehls Übersetzung des Romans und der Dramatisierung des „Geheimagenten“ von Joseph Conrad selbst in der Übersetzung von Elisabeth Freundlich. Da ist kein Wort Umgangssprache, alles hochgetönt, gekünstelt aber nicht gekonnt, aufgeblasen, Operoper –   dazu trägt auch William Minkes Sounddesign  gehörig bei. Minkes plündert ruchlos alle Stile, aber immer geschmackssicher und dann outriert.

Zugabe – Das haben Sie noch nicht gesehen!

Nach der vierten Stunde gibt es einige Szenen, die frei zum Thema Liebe und Geld und Verrat und Gemeinheit von Geheimdiensten und Anschlag, zu „Der Tod und das Mädchen“ assoziieren – das ist begeisternd, weil es über alle Grenzen hinausgeht. Das haben Sie noch nicht gesehen! Man kann das einsparen, wenn man will – aber besser kann man seine Zeit gar nicht verbringen, als hier zuzuschauen bei diesen Ausschweifungen. – Frank Castorf ist ein Volkstheater-Mann –   im Volkstheater dürfen Schauspieler extemporieren. Die Zensur im alten Wien hat versucht, das Nestroy zu verbieten, aber der ist lieber ins Gefängnis gewandert, als sich den Mund verbieten zu lassen. Bei diesen letzten Szenen hat man den Eindruck, die Schauspieler hatten bei den Proben noch ein paar Ideen – und die wurden nicht der Theaterökonomie geopfert, sondern die gab es dazu, gewissermaßen als Zugabe für uns, das Publikum. Es ist toll, den Schauspielern, noch mehr den Schauspielerinnen! zuzuschauen, wenn sie spielen, wie sie wollen: entfesselt: einhergehn auf der eignen Spur, die freien Töchter der Natur. Wehe, wenn sie losgelassen! – Das Ensemble spielt meisterhaft, der Applaus war einhellig und begeistert. Anarchie, ein Thema des „Geheimagenten“, Anarchie, die gefährlich ist, verboten werden soll und muss, hier wird sie gefeiert – als Freiheit.

Extravaganza

Gucken Sie sich diese Extravaganza (Kostüme zum Glotzen: Adriana Braga Peretzki) an, es lohnt. Wenn wir die Kosten für Geheimdienste einsparten – ich weiß, nur Peanuts – könnten wir unsere Theater damit unterstützen. Sie sind, was die Wahrheitsfindung betrifft, effektiver als „Der Geheimagent“ – der Nachteil: sie plaudern alle Geheimnisse aus – lustvoll!

                                                                                  Ulrich Fischer

Vorstellungen am 14. 11.; am 5. und 19. 12.; am 2. und 29. Jan. 2022

Spieldauer: etwa 5 Stunden, kommt drauf an. (Mit Pause)