Ein Autoren– und Regietrio revolutioniert das Theater

„Rimini Protokoll– Die ganz andere Sicht auf die Wirklichkeit

Von Günther Hennecke


Köln – Das deutschsprachige Theater schien auf einem Tiefpunkt angekommen, als sich im Jahr 2007 die Jury des Mülheimer Dramatiker–Preises, wichtigstes Forum für neue deutsche Stücke, für das „Nicht–Drama“ „Karl Marx. Das Kapitel. Bd. 1“ als bestes Stück der Saison entscheidet: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung verstieg sich seinerzeit zu dem Urteil, das käme einer „Selbstdemontage“ des Forums gleich. Der „Verlag der Autoren“ protestierte ebenfalls gegen diese Entscheidung.
Was Christine Wahl als Herausgeberin der Publikation „Rimini Protokoll–Welt Proben“ in ihrem einführenden Essay in Erinnerung ruft, ist längst vergessen – und das Autoren–und Regieteam Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel längst etabliert.

Beim Berliner Theatertreffen waren sie – mit „Situation Rooms“, „Deadline“ und „Wallenstein“ – ebenso vertreten wie mit dem „Europäischen Theaterpreis“, dem „Silbernen Löwen der Theaterbiennale Venedig“ und dem „Deutschen Hörspielpreis“ ausgezeichnet.

Beispiel 1: Karl Marx und das Kapital

Man schreibt das Jahr 2006. Im Düsseldorfer Schauspielhaus steht die Uraufführung „Karl Marx. Das Kapital. Bd.1“ auf dem Programm. Ein Stück Theater ganz besonderer Art, mit dem das Autoren–und Regietrio unter dem Label „Rimini Protokoll“ einmal mehr Aufmerksamkeit erregt. Seit 2010 sind sie als Tabubrecher unterwegs. Und wieder einmal, wie fast immer, stehen keine Berufsschauspieler auf der Bühne, sondern Menschen, die ihre eigene Biografie öffentlich machen, von der „Bühne des Lebens“ auf die des Theaters wechseln.
Aus Gesprächen mit vielen „Experten des Lebens“ waren schon zuvor alle Stücke hervorgegangen. Ein Blinder, voller Ironie und Humor, liest aus dem „Kapital“ – in Blindenschrift. Franziska, 37, Jelzin–Biografin erzählt aus ihrem Leben. Guide durch Marx’ „Kapital“–Gewirr ist Thomas Kuczynski, im richtigen Leben einst Direktor der „Akademie der Wissenschaften“ der DDR. Alles Menschen mit ihrem wahren Leben.

Beispiel 2: Räume der Macht in „Situation Rooms“

Gibt es in Düsseldorf noch eine klassische Bühne mit riesigem Bücherregal, in dem insgesamt acht „Experten“ Einblicke in ihr Lieben geben, wird es in Bochum, sieben Jahre später, 2013, verwirrender, zumal hier das Publikum der Star ist und von einer Bühne keine Rede mehr sein kann. Im Gegenteil, wir werden durch ein Labyrinth ineinander verschachtelter Räume geführt – durch „Situation Rooms“. Über Kopfhörer leitet jeden Einzelnen eine Stimme, ergänzt um Video–Szenen und Originalberichte von 20 echten Drogen– und Waffenhändlern, Kriegsjournalisten und Kindersoldaten in eine Welt scheinbar normalen Wahnsinns.
Dabei geht jeder Zuschauer seinen eigenen Weg. Nüchtern ist die Inszenierung, die den Besucher in die Rolle des Verfolgers wie eines Verfolgten zugleich versetzt, ohne ihn in ein Mitmach–Theater unseligen Angedenkens einzubinden. Fragen der Moral sind kein Thema, ein Urteil wird nicht abgegeben. Es sind Räume der Macht.

Beispiel 3: „Weltzustand Davos“: desaströs

Wieder anders und gleichwohl nicht verwechselbar ging’s Anfang 2018 im Zürcher Schiffbau zu. Helgard Haug und (der Schweizer) Stefan Kaegi sezierten mit „Weltzustand Davos“ das wenig später stattfindende Weltwirtschaftsforum, für das 60 Staatschefs ihre Anwesenheit angekündigt hatten. Trump inklusive. Dazu schickte das Team erstmals mehr Experten aus dem „richtigen Leben“ als Laien auf die Bretter. Wobei sich das Duo auch der Frage widmete, ob es in Davos wirklich um die „Verbesserung der Welt“ ging.
Aber auch Riminis Davos–Abend ist weder moralische Anstalt noch geeignet, sich über „die da oben“ erheben zu können. Das Team spielt gewissermaßen mit seinem Thema, Humor inbegriffen. Schon das Bühnenbild schickt die Fantasie auf Reisen. In einem Aufbau, einer Arena gleich, agieren nicht nur fünf „Experten“, auch das Publikum ist aktiv. Jeder Zuschauer vertritt nämlich, mit einer Firmen–Unterlage auf den Knien, eine der in Davos vertretenen Wirtschaftsmächte. Ob Glasnost, Nestlé oder der Öl–Gigant Aramco – wir spielen für sie mit, sind fiktive Chefs dieser Weltfirmen.
Für das „wahre Leben“ stehen Experten wie Politiker parat: Ex–Landmann Hans-Peter Michel, der jahrelang für sein Davos die Werbetrommel rührte. Zudem agierten ein Lungenfacharzt und der Soziologe Ganga Jey Aratnam, der dem Rohstoff–Multi Glencore in Sambia auf die miesen Spuren gekommen war. Mit Ihnen, den wahren „Experten“ aus vorderster Gipfelfront, fliegen wir fiktiv erst mal nach Davos, wo uns rundum eingespielte Videos in die Wirklichkeit dieser Tage versetzen. Wer da gewinnt? Fragen über Fragen.

Konzentrierte Publikation mit zahlreichen Fotos

Christine Wahls Essay zur historischen Entwicklung des ungewöhnlichen Theatertrios wird begleitet durch ein Gespräch des Dramatikers und Kurators Matthias Lilienthal mit dem Trio zum Thema„Theater und politische Nervosität“, und die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes zum Thema „Orte als Protagonisten“. Darüber hinaus bietet der Band ein detailliertes Werkverzeichnis der über 120 Produktionen und über 70 Fotos.
––––––––––––––––\––––––––––
„Remini Protokoll – welt proben“
Hrsg. Christine Wahl
Posttraumatisches Theater in Portraits – eine Publikationsreihe der Kunststiftung NRW, Bd. 4
184 Seiten, über 70 Fotos
Alexander Verlag Berlin
ISBN 978 – 3– 89581 – 560 – 7
12,90 €
184 Seiten, über 70 Fotos