Über sieben Brücken musst Du gehen

Dramatikerinnenwettbewerb 2022  in Mülheim – ein guter Jahrgang

MÜLHEIM. Wer in Salzburg die Staatsbrücke über die Salzach in Richtung Domplatz quert, übersieht leicht, dass rechts, unscheinbar, ein winziger Park mit einem modesten Denkmal liegt. Metallrahmen von lebensgroßen Stühlen stehen vor einem ebenso bescheidenen Metallrahmen, der aber Riesen-Ausmaße hat. Es ist ein Denkmal für Mozart.

Denk mal!

Dieses Verhältnis von Durchschnitt und Genie kennzeichnet auch die Beziehung der jetzigen Dramatiker*innen – trotz ihrer Originalität doch nur selten überragend – zu Elfriede Jelinek. Sie ist zum 20. Mal nach Mülheim  eingeladen –   sie hat es verdient. Es gibt 125,2  Gründe, warum die österreichische Nobelpreisträgerin ihre Kolleg*innen überragt; der gewichtigste scheint mir, dass sie nicht nur durch die Kühnheit, mit der sie brennende aktuelle Themen (diesmal die Seuche) aufgreift, nicht nur durch die Auswahl ihrer Zitate von großen Klassikern, namhaften Philosophen und banalen Mitmenschen sowie bösartigen Journalisten glänzt, sondern, dass sie die Feinde des Theaters, die Feinde der Dramatiker*innen, die dreisten Exploiteure des Theaters: die Regisseur*innen witzig überwältigt – durch die Form. In ihrem in diesem Jahr eingeladenen („Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“) wie in so vielen vorherigen Stücken: sie webt Textteppiche ohne anzugeben, welche Textpassagen welchen Figuren zugeordnet werden (sollen). Sie überlässt also dem Theater, meistens den Regisseuren, welche Figuren sie schaffen wollen und welchen Dialogteil sie wem zuordnen wollen. Die angemaßte Omnipotenz fordert Jelinek heraus – und das Ergebnis ist absehbar. Die Regisseure fallen ab.

Auch in diesem Jahr ist Elfriede Jelinek ihren Mitbewerberinnen weit überlegen – Mitbewerberinnen, denn unter ihnen ist nur ein Mann.

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Der Hahn im Korb heißt Akın Emanuel Şipal; erhat mit „Mutter Vater Land“  einen treffenden Titel für sein Stück  gewählt. Das Rätsel der Lücken zwischen Mutter, Vater und Land weist auf die Schwierigkeiten, eine Einheit zu finden wie etwa Muttersprache oder Vaterland. Es ist alles viel komplizierter – und bei Sipal nicht wegen der Komplexität langweilig, sonder wegen der Konkretheit kurzweilig&heiter.

Akın Emanuel Şipal

Die Hauptfigur, die mutmaßlich Züge mit dem Autor teilt, ist jung und leidet mächtig darunter, dass ihn seine deutschen Klassenkameraden als „Türken“ klassifizieren, diskriminieren und verspotten. Selbst seine Klassenlehrerin will ihn fest- und in eine Schublade legen. Ist er nun Türke oder Deutscher?:

„Alter Ego“ lehnt diese Alternative mit Verve ab – und das ganze Stück gibt ihm Recht. Zwar hat er einen „Opa (Autor)“, der in der Türkei als Autor hohes Ansehen genießt, aber der Opa übersetzt auch aus dem Deutschen und streitet sich die ganze Zeit mit „Vater“, wer besser Deutsch kann (und Türkisch). „Alter Ego“ meint auch, die türkische Kultur sei nicht nur Anatolien und rückwärtsgewandt, bäuerisch, er streitet sich mit „Oma (Breslau)“, die ebenso energisch wie unbelehrbar rassistische Ansichten vertritt, darüber, dass alle Türken, zumal die jungen, kriminell seien und sie (die Oma) auf dem Kieker hätten.

Şipal plädiert für  einen komplexen Begriff, resigniert aber am Ende komisch: sosehr er „Türke, türkisch“ dekonstruiert, erweitert und einem neuen Verständnis zugeführt hat, der „Türke“ als Begriff für einen primitiven, dumpfen, rohen und des Deutschen nicht mächtigen (NiemalsNeinNicht)Mitbüger, „Türke“ als Schimpfwort wird bleiben. Macht nichts – man kann dann ja Şipals Stück lesen, inszenieren, spielen, aufführen und anschließend in extenso diskutieren.

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Sivan Ben Yishai  könnte eine literarische Enkelin Elfriede Jelineks sein, vor allem wegen ihrer rücksichtslosen Aufrichtigkeit und ihres ebenso zersetzenden wie aufhellenden Humors. Sivan Ben Yishai räumt mit ihren „Wounds Are Forever (Selbstporträt als Nationaldichterin)“  sämtliche verfügbaren Tabus ab – und zwar radikal, nachhaltig und umweltfreundlich. Als erstes fällt auf, dass der Dramatikerwettbewerb „stücke“ ein Schauspiel einlädt, das ganz offensichtlich nicht deutsch ist – eine Voraussetzung für die Einladung – sondern einen englischen oder amerikanischen Titel trägt und von einer Frau verfasst ist, deren Name ebenso israelisch klingt wie ist.

Sivan Ben Yishai

Das Stück ist aber gleichwohl deutsch, obwohl neben dem Deutsch, das Maren Kames als Übersetzerin beiträgt, Arabisch wichtig ist, Jiddisch, Iwrit, Englisch und alle jene Sprachen, die eine Israelin heute so mitbekommt, deren Eltern in Konzentrationslagern litten ehe sie später in Israel heimisch wurden. Sivan Ben Yishai  ist genauso deutsch wie eben israelisch und die Großmutter stammt auch irgendwo aus Mitteleuropa und meldet sich auf Jiddisch, dessen Zusammenhang mit dem Deutschen schwer zu leugnen ist.

Leugnen ist ein Stichwort: Sivan Ben Yishai  ist gegen das Leugnen, und ihr Stück ist eines gegen diese Todsünde – die Dramatikerin deckt mit Wonne alle Verbrechen auf, die durch Leugnen sorgsam verdeckt werden soll(t)en.

Natürlich zuerst einmal die ihrer Eltern. Die Eltern baden in Erzählungen ihres Leids während der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland – aber Sivan Ben Yishai  nimmt das nicht ernst, sie übertreibt maßlos, was zum Farcencharakter ihres Stücks beiträgt. Ein deutscher Schäferhund zerreißt eine Frau, frisst ihr Herz, doch die Verfolgte, die manchmal Züge der Großmutter trägt, mit der die Dramatikerin sich dann und wann identifiziert, überlebt und macht sich, allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, auf den Weg nach Israel. Die Fabulierlust, die nicht nur Deutschen, sondern auch Juden wie Israelis (Iren, Italienern, Arabern, Indern, name it) nachgesagt wird, erklimmt Gipfel. Eine Boshaftigkeit dabei ist, dass Sivan Ben Yishai  ihren Eltern und deren Generation die Glaubwürdigkeit abspricht – um die Grausamkeit der Deutschen auch recht grausam wirken zu lassen, musssoll die Atrozität zur Grausamgrausamkeit überhöht und womöglich durch Erfindungsreichtum und Phantasmen noch gesteigert werden.

Insofern ist es kontraproduktiv, wenn Sivan Ben Yishai  die Glaubwürdigkeit ihrer Eltern und sogar ihre moralische Überlegenheit in Frage stellt. Denn was haben sie gemacht, um Palästina zu erobern? Das Tuch des Schweigens, das sorgsam über die Verbrechen bei der Eroberung gebreitet wurde und wird, zieht Sivan Ben Yishai  einfach beiseite und zeigt die Gejagten und Verfolgten als Jäger und Verfolger. Unerhört!

Als die Eltern   erfahren, dass die ungeratene Tochter Dinge zur Sprache bringt, die sorgsam beschwiegen gehören, rufen sie Sivan Ben Yishai  an und versuchen energisch, sie zur Raison zu bringen. Kein Wunder, dass die Deutschen sie einladen, ein Stück zu schreiben, wenn die AltneuimmerwährendenNazis sich so exkulpieren und den Juden nachsagen können, sie hätten selbst keine reine Weste.

Aber das böse Mädchen denkt nicht daran, auf die Eltern zu hören, verwandelt sich selbst in eine jüdische Kämpferin ihrer ElternGeneration und zieht mit ihrem Maschinengewehr los, wohl wissend, wen sie damit vom Leben zum Tode befördern will und wird.

Was ein Eisbrecher unter den Schiffen ist dieser Tabubrecher unter den Stücken. Der Zuschauer schwankt zwischen Schock und Lachen – neben einigen Längen geht es dann   wieder hochdramatisch weiter, Gipfel nach Gipfel   ersteigt die Handlung, und nach und nach wird klar, dass Sivan Ben Yishai  sich gegen Gewalt ausspricht. Sie versteht sie, aber sie ist offenbar der Überzeugung, dass sie zu nichts führt, als wieder zur Gewalt.

Diese gewalttätige Stück ist durch und durch pazifistisch.

Mit ihrer Neigung zur Verschwisterung von Gegensätzen und Aufhebung (tollere) von Widersprüchen hört Sivan Ben Yishai  bei den Inhalten und Wunden nicht auf, sie schreitet fort zu den Formen: „Wounds are forever“ ist eine Performance, die Autorin vermerkt es in Klammern gleich im Titel „(Selbstportrait als Nationaldichterin)“, und gleichzeitig ein Kosmen übergreifendes (totales im Sinn von Totalität)  Stück, weil die in der Performance dargestellte Figur, die Autorin, ein Ausmaß ausnimmt, das Epochen wie das Wahrscheinlich übertrifft (Ähnlichkeit zu George Bernard Shaws „Saint Joan“). Sie ist nicht nur Tochter, Autorin, sie nimmt auch die Eltern in sich auf, die Großmutter, das Wahrscheinliche wie das Unwahrscheinlich, das Übertrieben und das Epochenübergreifende, das Gute und Böse, die Sage, das Märchen, die realistische Geschichte, auch das nie Abgeschlossene – manchmal erinnert „Wounds…“  wegen der Fabulierlust an Odysseus und Sivan Ben Yishai an Homer. Aber sie ist gewiss nicht, wie der große Alte, blind.

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Am anderen Ende des Spektrums, nämlich am Ende mit der roten Laterne, zumindest unter ferner liefen, ordne ich „Monte Rosa“ ein, trotz aller Courage der Verfasserin:  Teresa Dopler hat mit „Monte Rosa“ ein minimalistisches Drama geschrieben. Schon im Personenverzeichnis beschränkt sie sich nicht nur auf drei Figuren, sondern auch auf eine äußerst kurze Nomenklatur: A,B.C. A und B treffen sich offenbar in den Alpen, sie definieren sich als Bergsteiger und schwärmen von Gipfeln und Blicken. Sie nähern sich vorsichtig an um herauszubekommen, ob sie miteinander eine Gemeinschaft bilden, mit dem anderen zusammen einen Gipfel erklimmen könnten.

Teresa Dopler

Erotische Einsprengsel werden deutlich, wenn einer den anderen bittet, sich zu entkleiden. Der Argwohn des Zuschauers wird wach, wenn als Grund angegeben wird, beim anderen herauszufinden, wie fit er ist. Gibt es da nicht noch etwas andres? Teresa Dopler nährt den Verdacht, es könne so etwas wie eine Inspektion der Hintern geben, wenn nicht sogar eine anale Penetration.

Neben der Schwärmerei für das Schöne, Gigantische der Alpenlandschaft gewinnt eine andere Geschichte an Gewicht. Ein dritter Bergsteiger ist offenbar abgestürzt und obwohl er laut um Hilfe gerufen hat, ließen alle ihn im Stich. Je sorgfältiger A und B darauf hinweisen, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben müsse, dass der Verunfallte selbst schuld sei, desto mehr nähren sie den Argwohn, dass es da andere Gründe gegeben haben könnte, ja müsse, dass sie etwas verdecken wollen.

Am Ende ist nichts aufgedeckt, aber die Meinung der Zuschauer dürfte sich verfestigt haben: Die Schwärmerei über das Gebirge verdeckt die Tatsache, dass Berge Todesgefahr bergen; die Schwärmerei über die Makellosigkeit der Körper verdeckt, dass die Männer nicht mehr so jung sind, wie sie sein möchten; ihre erotische Anziehungskraft schwindet, ist geschwunden – was sie sich nicht eingestehen möchten.

Monte Rosa – das „Rosa“ weist auf Homosexualität. Unter der schwärmerischen Oberfläche verbergen sich Rücksichtslosigkeit, Egoismus und mit  Verlogenheit verbundener  Heuchelei. Teresa Dopler legt über Homosexuelle ein scharfes Urteil nahe: von Liebe, Zuneigung, Hilfsbereitschaft kann keine Rede sein. In Todesgefahr lässt einer den anderen im Stich. Und wenn die sexuelle Attraktivität schwindet, ist sofort die Bereitschaft des Partners da, den alten Gefährten zugunsten jüngerer, attraktiverer zu verlassen.

Die Personenbezeichnung ist minimalistisch, die Handlungsstruktur ist minimalistisch, die Sätze, fast alle unter zehn Worten kurz, sind minimalistisch – und will man das Urteil Doplers minimalistisch ausdrücken, so reichen drei Worte:

Homos sind roh. Differenzierter: Homos sind unmenschlich roh.

Das steht in heftigem Widerspruch zur vorherrschenden aktuellen Tendenz, die Homosexuelle, eine unter anderen Minderheiten, ins Gebiet der Achtung holen will. Teresa Dopler hat Courage, gegen den Strom zu schwimmen.

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Auch wenig Chancen, den Preis zu gewinnen, dürfte „White Passing“  von Sarah Kilter haben. „White Passing“   ist ein rätselhafter Titel, ebenso rätselhaft wie die zentrale Figur „Sie“ und wie die (wenig ausgeprägte) Handlung insgesamt. „Sie“ steht im Mittelpunkt und an der Spitze der dramatis personae, nach ihr kommen „A (Lehrerin)“, „B (Arzt)“, Max, Thomas und Jule. Max, Thomas und Jule sind etwa so alt wie „Sie“, Adoleszente. Sie wollen „Sie“ überraschen und kommen zum Geburtstag – doch „Sie“ ist nicht zu Hause. Die drei sind überrascht, wie großzügig die Wohnung ihrer „Freundin“ ist – ein zentrales Rätsel – in der Mitte des Stücks bleibt die Frage, woher „ihr“ Wohlstand, das Geld kommt, damit verbunden: Wer ist „Sie“?

Sarah Kilter

„Sie“ tritt selbst mehrfach auf und erklärt, „Sie“ sei nicht identisch mit der Autorin. Der Zuschauer ist dankbar für die Belehrung. Immer wieder sind ganze Szenen bereitgehalten für Bemerkungen über Deutschland und die Deutschen – sie könnten „Sie“ zur Verfasserin haben – sie könnten auch von der Darstellerin „Sie“ verlesen oder vorgetragen werden. So sehr die kurzen, nebeneinander gestellten, teilweise boshaften Bemerkungen zur Form des Aphorismus streben, so sehr verfehlen sie sie. Sie wirken eher geschwätzig als zugespitzt, treffen nicht. Bosheit geht  nicht unbedingt mit der Fähigkeit zum Aperçu zusammen. 

Sarah Kilter, die Autorin, betont den Unterschied von „Sie“ und ihren „Freunden“ –  die Freunde sind wohlstandsverwahrloste Kinder, „Sie“ hatte nicht die Förderung vom Elternhaus oder ist gar verwöhnt worden – weil sie sich selbst durchbeißt, hat sie Erfolg? Meint Sarah Kilter sich selbst? Mit Autorenhonoraren verdient man nicht unbedingt gut. – Oder ist ihre „Sie“ mit der Vermarktung ihres Körpers wohlhabend geworden? Den Quell des Wohlstands hüllt die Autorin sorgfältig in Dunkel und befördert so Spekulationen.

Die Unverantwortlichkeit der Elterngeneration wird von A und B dargestellt – besonders A, die Lehrerin, wirkt engstirnig klassenbewusst, will nur Kinder fördern, deren Eltern Abitur haben – und B, der Arzt, der es auf ein erotisches Abenteuer mit A abgesehen haben dürfte, stimmt ihr bei. Im Gespräch der beiden wird angedeutet, dass „Sie“ das „GYMNASIUM“ (immer GROSZ geschrieben) verlassen musste,   massive Vorurteile haben das ebenso bewirkt wie das Wegsehen – als „Sie“ gemobbt wurde, hat man ihr nicht geglaubt, nichts wurde unternommen.

Wer der auseinanderstrebenden Teile zusammenfügen möchte, kann Umrisse erkennen: „Sie“ ist schlecht behandelt worden, von ihren Klassenkameraden wie von der Lehrerin; sie wurde in eine Außenseiterposition gedrängt, gehörte nie dazu – sie musste die Schule vor dem Abitur verlassen – und hat es trotzdem geschafft. Aus eigener Kraft, nicht mehr abhängig von zu Haus, von der wohlhabenden Familie, die sie unterstützt – und damit ihr Erwachsenwerden be- oder gar verhindert.

Der unangenehme Eindruck drängt sich auf, dass Sarah Kilter und „Sie“ doch nicht so weit auseinander liegen, wie im Stück behauptet und Sarah Kilter von sich das Bild zeichnet: Trotz eines vorurteilsbeladenen Deutschlands, trotz „Freunden“, die keine Freunde sind, trotz unfähiger, diskriminierender, engstirniger und -herziger Lehrer hat „Sie“ es geschafft, wurde eine erfolgreiche Künstlerin, die es allen zeigt.

Das erinnert an  Protzerei, Omnipotenzgehabe phallusgeplagter junger Männer, Maulheldentum, Großsprecherei – und an Politikerinnen der ersten Reihe, die sich mehr Ausbildungserfolge zumessen als sie aufweisen können und Bücher zusammenstellen lassen, für die sie sich als Autorin ausgeben. Aber die Intention Sarah Kilters, der Autorin, scheint keineswegs zu sein, ein kritisches Licht auf „Sie“ zu richten, im Gegenteil. Allerdings ermöglicht der Text – nolens volens -für kritische Regisseur*innen und Schauspieler*innen einen Blick auf Vertreter der jungen Generation als narzisstische Sozialisationstypen  in ausgeprägter und deshalb besonders kenntlicher,  ausgeprägter Form.

Ein Porträt der jungen Generation als selbstverliebt, unkritisch, verdorben und durch und durch egoistisch, umrissen mit einem Humor, der eher verletzt als zündet: Vielleicht ist das gemeint mit „White Passing“?

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Nora Abdel-Maksoud  darf sich mit guten Gründen  Hoffnung auf den Zuschauer-Preis machen – in „Jeeps“ greift sie ein heißes Thema auf: In Deutschland wird (in naher Zukunft) das Erbrecht radikal geändert. Niemand kann mehr seinen Besitz an die Kinder weitereichen, die Karten werden neu gemischt. Arbeitsämter haben die Aufgabe bekommen, Mitbürgern Lose zu geben, die darüber entscheiden, ob man etwas von den Milliarden bekommt, die bislang jährlich Gutbetuchte vererbten – nicht mehr der Zufall der Geburt entscheidet.

Nora Abdel-Maksoud

Den Beamten, die die Lose vergeben, wächst ungeheure Macht zu. Z.B.  Gabor, einem schlechtbezahlten Staatsdiener, der einen „Jeep“ fährt, ein Riesenauto, das Unmengen an Benzin verschlingt und ein Vermögen kostet. Gabor leidet an einer seltenen Krankheit, er kann sich keine Gesichter merken und weiß nicht, ob er einen Bittsteller schon einmal gesehen hat oder nicht. Von seinem Vorgesetzten, Armin, lässt er sich nichts sagen.

Silke und Maude, zwei Freundinnen,  wollen sich die Schwäche Gabors für sein Auto zu Nutze machen. Sie planen einen Anschlag: Silke hat eine Niete gezogen und will ein neues Los. Das Vermögen ihrer wohlsituierten, leiderleider verstorbenen Eltern, oder mehr. Wenn Gabor ihr kein neues Los gibt, so drohen sie, sprengen sie sein wunderbares Auto in die Luft.

Nora Abdel-Maksoud spitzt ihre Komödie zur Farce zu – eine Pointe folgt rasch auf die nächste – der Angriff auf die unhaltbare Ungerechtigkeit unseres derzeitigen Erbrechts, das Reiche begünstigt, jungen Leuten Vermögen zuschanzt, die nichts dafür getan haben, wird flankiert mit Seitenhieben auf Autobauer, die für  verrückte Egomanen planen und bauen;   Witze  über eine Bürokratie, die ihre Aufgaben nicht zu bewältigen vermag, tun ein übriges. Auf den Fluren des Arbeitsamtes sieht es aus wie in einem Dritte-Welt-Land im fünften Stadium (oder wie in Berlin auf Passämtern). Allerdings skizziert die Dramatikerin die Antrag- oder Bittsteller nicht als Bettler, sondern als schlecht erzogene, wohlstandsverwahrloste (schon wieder!)  Sprösslinge Reicher, die mit Heerscharen von Anwälten antanzen, um ihre vermeintlichen Ansprüche durchzusetzen, trotz und gegen das neue Recht.

Abdel-Maksouds dramatische Attacke sitzt, sie erweist sich als Meisterin der Satire, als wäre sie die literarische Tochter von Nobelpreisträger Dario Fo. Sie trifft wesentliche Schwächen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit – und sorgt für Unterhaltung. Sie verletzt laufend Tabus und spricht Dinge aus, die in einem ordentlichen Theater höflich beschwiegen würden – die reichen Leute, die auf den teuren Plätzen im Parkett sitzen, werden nicht geschont.  Wie Dario Fo schreibt Abdel-Maksoud ein Volksstück. Die Fabel ist geglückt, die Figuren sind geglückt, der Dialog ist geglückt und die dramatische Ökonomie berücksichtigt. Es ist kein Aufwand nötig um das Stück aufzuführen, nur Mut der Theaterleitung und vier Schauspieler, die noch nicht ihre Spiellust eingebüßt haben.

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Rimini Protokoll hat dem Gegenwartstheater neue Räume eröffnet, den Realismusbegriff ausgeweitet – die Verdienste des Kollektivs können nicht hoch genug angeschlagen werden. Schön, dass es wieder nach Mülheim eingeladen wird, Helgard Haug wählt in ihrem Stück „Allright. Good Night“  ein eminent dramatisches, existenziell bedeutsames und erkenntniskritisch erhellendes Thema: Das Verschwinden. Die Frau von „Rimini Protokoll“ stellt ihren acht Szenen einen Prolog voran: „Im Frühjahr 2014 steigt der Vater in ein Flugzeug ein…“

Helgard Haug

Es geht um einen Flug von Kuala Lumpur nach Peking. Die ersten Stunden verlaufen planmäßig, dann verliert das Flugzeug den Kontakt zu seinen irdischen Kontaktpunkten. Auf der Erde weiß niemand, wo das Flugzeug sein könnte – es verschwindet.

Die zweite Erzählung betrifft Haugs Vater. Er wird alt, vergesslich und erkrankt schließlich an Demenz. Sein Bewusstsein (ver)schwindet.

Haug stellt die beiden Handlungsstränge nebeneinander – sie verzwirbelt sie nicht, sondern überlässt es ihrem Publikum, Ähnlichkeiten zu finden. Ähnlichkeiten zwischen der Suche nach dem Flugzeug, später nach dem Wrack – einer vergeblichen Suche – und dem Verlust des Gedächtnisses, der Veränderung des Bewusstseins…

Obwohl immer wieder Hoffnung aufkeimt, man könne das Flugzeug finden, weil Wrackteile auftauchen, die der Maschine zugeordnet werden könnten; obwohl der Vater immer wieder Teile seines alten Bewusstseins zurückgewinnt – bleibt der Gang der Zeit unerbittlich. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass das Wrack gefunden wird; der Vater stirbt am Ende; sein Bewusstsein erlischt.?

Das Stück wirkt bezwingend, weil die Gewissheit, dass wir wissen, nachhaltig gestört und schließlich zerstört wird. Wir wissen nichts und wer meint zu wissen, irrt: Diese zentrale Schlussfolgerung teilt Haug mit Dramatikern des Absurden .

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Aber ich bleibe dabei: Elfriede Jelinek überragt alle …