Starkes Stück

Dramatikerpreis für Sivan Ben Yishai

MÜLHEIM an der Ruhr. Sivan Ben Yishai   wird in diesem Jahr mit dem Dramatikerpreis ausgezeichnet. Zu Recht!

Sie räumt mit ihren „Wounds Are Forever (Selbstporträt als Nationaldichterin)“  sämtliche verfügbaren Tabus ab – und zwar radikal, nachhaltig und umweltfreundlich. Als erstes fällt auf, dass der Dramatikerwettbewerb „stücke“ ein Schauspiel einlädt, das nicht deutsch ist – eine Voraussetzung für die Auszeichnung – sondern einen englischen oder amerikanischen Titel trägt und von einer Frau verfasst ist, deren Name israelisch klingt – und ist.

Sivan Ben Yishai

Das Stück ist aber deutsch, obwohl neben dem Deutsch, das Maren Kames als Übersetzerin beiträgt, Arabisch wichtig ist, Jiddisch, Iwrit, Englisch und alle jene Sprachen, die eine Israelin mitbekommt, deren Eltern in Konzentrationslagern litten und später in Israel heimisch wurden. Sivan ist ebenso deutsch wie eben israelisch und die Großmutter stammt auch irgendwo aus Mitteleuropa und meldet sich auf Jiddisch, dessen Zusammenklang mit dem Deutschen schwer zu leugnen ist.

Leugnen,leugnen,leugnen…

Leugnen ist ein Stichwort: Sivan Ben Yishai ist gegen das Leugnen und ihr Stück ist eines gegen diese Todsünde – sie deckt mit Wonne alle Verbrechen auf, die durch Leugnen sorgsam verdeckt werden soll(t)en.

Natürlich zuerst einmal die ihrer Eltern. Die Eltern baden in den Erzählungen ihres Leids während der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland – aber Sivan nimmt das nicht ernst, sie übertreibt maßlos, was zum Farcencharakter ihres Stücks beiträgt. Ein deutscher Schäferhund zerreißt eine Frau, frisst ihr Herz auf, doch die Frau, die manchmal Züge der Großmutter trägt, mit der die Dramatikerin sich identifiziert, überlebt und macht sich, alle Wahrscheinlichkeiten missachtend, auf den Weg nach Israel. Die Fabulierkunst, die nicht nur Deutschen, sondern auch Juden wie Israelis nachgesagt wird, erklimmt Gipfel. Eine Boshaftigkeit dabei ist, dass Sivan ihren Eltern und deren Generation die Glaubwürdigkeit abspricht – um die Grausamkeit der Deutschen auch recht grausam wirken zu lassen, muss die Atrozität zur Grausamgrausamkeit überhöht und womöglich durch Erfindungsreichtum und Phantasmen noch gesteigert werden.

Unerhört!

Insofern ist es kontraproduktiv, wenn Sivan die Glaubwürdigkeit ihrer Eltern und sogar ihre moralische Überlegenheit in Frage stellt. Denn was haben sie gemacht, um Palästina zu erobern? Das Tuch des Schweigens, das sorgsam über die Verbrechen bei der Eroberung gebreitet wurde und wird, zieht Sivan einfach beiseite und zeigt die Gejagten und Verfolgten als Jäger und Verfolger. Unerhört!

Als die Eltern   erfahren, dass die ungeratene Tochter Dinge zur Sprache bringt, die sorgsam beschwiegen gehören, rufen sie Sivan an und versuchen energisch, sie zur Raison zu bringen. Kein Wunder, dass die Deutschen sie einladen, ein Stück zu schreiben, wenn die AltneuimmerwährendNazis sich so exkulpiren können und den Juden nachsagen, sie hätten selbst keine reine Weste.

Aber das böse Mädchen denkt nicht daran, auf die Eltern zu hören, verwandelt sich selbst in eine jüdische Kämpferin ihrer Generation und zieht los mit ihrem Maschinengewehr, wohl wissend, wen sie damit vom Leben zum Tode befördern will und wird.

Was ein Eisbrecher unter den Schiffen ist dieser Tabubrecher unter den Stücken. Der Zuschauer schwankt zwischen Schock und Lachen – neben einigen Längen geht es dann   wieder hochdramatisch weiter, Gipfel über Gipfel werden erstiegen, und nach und nach wird klar, dass Sivan sich gegen Gewalt ausspricht. Sie versteht sie, aber sie ist offenbar der Überzeugung, dass sie zu nichts führt, als wieder zur Gewalt.

Diese gewalttätige Stück ist durch und durch pazifistisch

Mit ihrer Neigung zur Verschwisterung von Gegensätzen und Aufhebung (tollere) von Widersprüchen hört Sivan bei den Inhalten und Wunden nicht auf, sie schreitet fort zu den Formen: „Wounds are forever“ ist eine Performance, die Autorin vermerkt es in Klammern gleich im Titel „(Selbstportrait als Nationaldichterin)“, und gleichzeitig ein Kosmen übergreifendes (totales im Sinn von Totalität)  Stück, weil die in der Performance dargestellte Figur, die Autorin, ein Ausmaß ausnimmt, die Epochen wie das Wahrscheinlich übertrifft. Sie ist nicht nur Tochter, Autorin, sie nimmt auch die Eltern in sich auf, die Großmutter, das Wahrscheinliche wie das Unwahrscheinlich, das Übertrieben und das Epochenübergreifende, das Gute und Böse, die Sage, das Märchen, die realistische Geschichte auch das nie Abgeschlossene – manchmal erinnert „Wounds…“  wegen der Fabulierlust an Odysseus und Sivan Ben Yishai an Homer. Aber sie ist gewiss nicht, wie der große Alte, blind.

                                                                                                       Ulrich Fischer