John Grisham: „Heimkehr“ – meisterhaft
„Ein Riesenwortschatz kann beim Schreiben hinderlich sein“, bemerkt Miss Iris auf S. 192 von John Grishams drei neuen Romanen, die er unter dem übergreifenden Titel „Heimkehr“ jetzt veröffentlicht hat. Ein Satz, den man getrost als ein Gravitationszentrum von Grishams Poetik ansehen darf. Der amerikanische Bestsellerautor schreibt für alle. Miss Iris, Grishams sympathisch Verkörperung des gebildeten konservativen Amerika, war lange Jahre Englischlehrerin an einer Highschool im Mittleren Westen, jetzt sitzt sie im Rollstuhl. Trotzdem hat sie sich auf die lange Fahrt gemacht, um ihren Schützling Cody zu treffen. Am Tag seiner Hinrichtung. Das amerikanische Justizsystem, dessen Praxis Grisham nicht müde wird kenntnisreich und phantasievoll zu attackieren, obwohl er selbst die Todesstrafe prinzipiell für grausame Taten befürwortet, dieses System ist unglaublich menschlich und gestattet der alten Dame 15 Minuten mit Cody zu sprechen. Sie hat ihm während der Haftzeit Bücher geschickt – und Cody, der dank der Bücher lesen gelernt hat, hat die Wände seines bedrängend engen Kerkers damit ausgekleidet. „Ich habe die schönste Zelle im Todestrakt“, stellt Cody stolz & dankbar fest – wer will, kann daraus entnehmen, was Grisham über die menschliche (unsere) Existenz und die Kunst denkt, deren Meister der Bestsellerautor ist.
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„Für eine Staatsanwaltschaft, die von modernen Varianten des Verbrechens – Cyberkriminalität, Terrorzellen, Chrystal-Meth-Küchen, Drogenhandel, Kreditkartenbetrug, Online-Piraterie und russische Hackerangriffe, um nur einige Beispiele zu nennen – geradezu überschwemmt wurde, klang die Vorstellung, dass sich ein Gouverneur für die Begnadigung von Straftätern bezahlen ließ, tatsächlich altmodisch.“, schreibt Grisham auf S. 340 f., ziemlich am Ende von „Sparringspartner“, dem letzten der drei Romane. Die Vorstellung von einem hochgestellten Politiker, bei uns in der Bundesrepublik, einem Ministerpräsidenten, der über Gnadenrechte verfügt und die dann verscherbelt, lässt dem Leser und auch der Leserin die Haare zu Berge stehen. Für Grisham ist das die Basis, von der aus er zu unvorstellbaren Verbrechenshöhen und Verrottungsabgründen startet, verbunden mit unvorstellbarem Lesevergnügen. Man muss in Grishams Amerika schon bis zur Verschlagenheit schlau sein, um endlich in Zürich zu landen, in einer Luxuswohnung mit Blick auf das Finanzzentrum.
Dabei nimmt Grisham eine Geschichte zum Ausgangspunkt, die im Alten Testament steht; Kain und Abel, Brüder, Konkurrenz. Die Fähigkeit, solche Geschichten zu extrapolieren, hat Grisham zur Meisterschaft ausgebildet. Die Quintessenz ist schrecklicher, noch schrecklicher, weil sie uns allen langelange bekannt ist: Liebe deinen Nächsten. Feindschaft gebiert Ungeheuer.
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In „Heimkehr“, dem ersten der drei Kurzromane, geht es um ein Hauptproblem Amerikas, der Welt, das Grisham immer wieder neu phantasievoll gestaltet hat: den Gegensatz zwischen Arm und Reich. Wie komme ich an die Knete, die ich brauche, um meiner Tochter ein Studium finanzieren zu können, das sie aus der verwünschten Kleinstadthölle, aus der provinziellen Enge hinausführt ins Weite?
Welcher der drei Romane der Beste ist? Also, ich würde sagen, na ja, Erdbeermond? Oder Heimkehr? Sparringspartner! – Nein, ich lege mich nicht fest. Ich habe viele Grisham-Romane gelesen und manchmal gemeint, der Meister würde zu breit, zu episch. Diese Kurz-Romane haben gegenüber den Vollromanen den Vorteil der Kürze, sie wirken eindeutig dramatischer.
Grisham schreibt lockerflockig, nutzt klug die Alltags- und Umgangssprache, ohne jede Blähung, oft heiter – seinen lässig-amerikanischen Ton treffen die Übersetzer*innen jederzeit genau, das lakonische Amerikanisch kommt in deutscher Lakonie an: Bea Reiter („Die Heimkehr“), Kristiana Dorn-Ruhl („Erdbeermond“) und Imke Walsh-Araya („Sparringspartner“).
Der Überblick, über den Grisham verfügt, raubt den Atem. Seine Ironie, sein Sarkasmus, sein Spott wird noch übertroffen von einer brillanten, scharfsinnigen, weit- & tiefblickenden Analysefähigkeit: wie mächtige Bürokraten in Verwaltung und Justiz Gesetze biegen, um sie ihren politischen und persönlichen Wünschen dienstbar zu machen, beschreibt er präzis, glaubhaft, nachvollziehbar. Gerechtigkeit spielt keine Rolle, wäre abwegig. – Geradezu logisch erwecken diese Feststellungen ein vorherrschendes Gefühl: Melancholie.
Diese Schwermut drückt Grisham in „Erdbeermond“ geradezu lyrisch aus. Der Vollmond verströmt sein gleißend-silbernes Licht über Amerikas Süden, über jene seit Generationen verblendeten Bürger*innen , die ihre begabtesten jungen Männer in der Todeszelle verrotten lassen, bevor sie sie hinrichten.
Nach der Lektüre hatte ich einen Traum: Eines Tages tun die Leser John Grishams sich zusammen. Dann wird Amerika …
O happy day.
Ulrich Fischer
John Grisham: Die Heimkehr. Heyne München 2022; e-Book: 15,99€